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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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nicht gewußt, daß er weggezogen ist. Du hast immerhin die Adresse seines Onkels, die hilft dir bestimmt weiter.» Davide machte eine Pause. «Ich habe meine Mutter nicht angelogen. Ich hab’ ihr gesagt, daß ihr meine Freunde seid, daß ich viel Zeit mit euch verbringe, daß ich an Florian hänge.» Er riß eine Rosetta in Stücke, höhlte sie aus, bis nur mehr die Kruste übrigblieb. «Anfang der neunziger Jahre war ich mal mit einer Frau zusammen. Sie klammert sich halt an jede, die irgendwo auftaucht.»
    Im Saal, der an die Rezeption angrenzte, saßen fast nur Geschäftsleute mit Aktentaschen, sie telephonierten und blätterten in ihren Unterlagen. Davide sprach so leise, daß Irma ihn kaum verstand.
    Â«Wir sind zwangsläufig feige», sagte Davide und steckte sich ein Stück Brot in den Mund, «von dir habe ich erwartet, daß du das verstehst.»
    Irma dachte daran, wie schwer es für sie gewesen war, den Eltern ihre Schwangerschaft mitzuteilen, wo es doch keinen greifbaren Vater gab. Die Eltern und die Großmutter hatten wochenlang nicht mit ihr gesprochen.
    Â«Das mit der Adoption und dem Zusammenleben habe ichernst gemeint, meine Mutter weiß nichts davon», sagte Davide, «das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Es beruhigt sie, daß ich irgendwo zu Hause zu sein scheine. Und ich bin doch bei euch zu Hause, oder nicht? Wir sind doch trotz allem so etwas wie eine Familie?»
    Â«Natürlich sind wir eine Familie.» Irma nahm noch einen Schluck Kaffee, stand dann auf. «Wie komme ich ins Heim?»
    Â«Ich bring’ dich hin,» sagte Davide.
    Die Casa di riposo lag an einer vielbefahrenen Straße; vor dem Eingang neben den Oleanderbüschen saßen mehrere Männer und Frauen auf den Bänken und beobachteten den Verkehr. Drinnen erwartete Irma ein breiter Gang, dessen Wände schon lange nicht mehr gestrichen worden waren. Es roch nach Essen, nach schlechtgelüfteten Räumen. Ein Mann, der vor dem Kaffeeautomaten gestanden hatte, näherte sich Irma und fragte sie, ob sie eine Zigarette für ihn habe.
    Â«Leider nein. Können Sie mir sagen, wo ich die Schwester finde?»
    Ohne zu antworten, zog er Irma am Handgelenk zu einer Tür, die angelehnt war. «Kaufen Sie mir Zigaretten?» In den Mundwinkeln des Mannes waren braune Ränder, er war unrasiert. Nachdem ihm Irma ein paar Euromünzen zugesteckt hatte, rief er nach Schwester Okhi.
    Â«Mancini, Sie haben Ihre Ration schon bekommen», klang es aus dem Zimmer. Als sich die Tür öffnete, blickte Irma in eine kleine Küche, auf dessen Tisch zwei gebrauchte Kaffeetassen standen.
    Â«Bitte?» Die Schwester sah erst zu Herrn Mancini, dann zu Irma hoch; sie war klein, die weiße Kleiderschürze reichte ihr unter die Knie. «Ist etwas passiert?»
    Â«Ich suche Herrn Lucchi.»
    Â«Zimmer vier.»
    Als sich Irma umdrehen wollte, entdeckte sie auf der Holzverkleidung der Eckbank ein Porträt; das ungerahmte Photo zeigte das Gesicht einer Frau. Die hab’ ich schon gesehen, dachte Irma. Während Herr Mancini abstritt, seine Zigarettenration erhalten zu haben, überlegte Irma, wo sie der Frau begegnet war.
    Â«Noch etwas?»
    Â«Nein, danke. Oder doch – wo finde ich Zimmer vier?» Irma machte mit dem Zeigefinger die Bewegung eines Scheibenwischers. «Links, rechts?»
    Â«Mancini, begleiten Sie die Frau zu Herrn Lucchi», sagte die Schwester und verschwand in der kleinen Küche. Irma fiel der Möbelhändler ein. Sie war sich fast sicher, daß auf dem Bild im Geschäft dieselbe Frau abgebildet gewesen war wie auf dem Photo in der Küche.
    Sie gingen den Gang zurück, bogen hinter dem Haupteingang rechts ab. Der Trakt schien U-förmig angelegt zu sein.
    Â«Die Tür da», sagte der Mann, drehte sich um und ließ Irma allein. Sie zog das Diktaphon aus der Tasche, sprach leise ins Mikrophon, erzählte sich in wenigen Worten, was sie gesehen hatte. Aus dem Zimmer daneben drangen Schreie, jemand sagte mehrmals: «Es ist gleich vorbei.»
    Irma gab sich einen Ruck, klopfte. Nichts. Sie klopfte wieder. Keiner antwortete. Dann öffnete sie vorsichtig die Tür.
    Â«Was wollen Sie?» Herr Lucchi saß in einem Lehnstuhl neben der Balkontür, er rührte sich nicht. «Wer sind Sie?»
    Â«Darf ich kurz stören. Ich habe eine Frage», sagte Irma. Sie näherte sich dem Mann, von

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