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Ueberdog

Ueberdog

Titel: Ueberdog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg-Uwe Albig
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Viertelstunde machte sich Schmiddel zur Weckrunde auf.
    Es gab so viel zu tun. Wir brannten an beiden Enden, lebten jeden Tag, als wäre er der letzte oder der erste vom Rest unseresLebens. Paul holte belegte Brötchen vom Occupy-Camp am Gerhart-Hauptmann-Platz; wir verzehrten die Beute an den Stehtischen von Fisch-Gosch in der Gänsemarktpassage. Wir sangen Shantys und sahen zu, wie die anderen Gäste verbissen ihre Langustenkrusten zermalmten. Am nächsten Tag schifften wir uns auf dem Kreuzfahrtschiff »Smutje Lührs« ein, dessen Passagiere gerade vom Landgang kamen, stachen unbemerkt mit ihnen in See. Die Ausflüge in Oslo, Bergen, Narvik und Tromsø ersparten wir uns; die Bingoabende saßen wir auf dem Sonnendeck aus. Dort kauerten wir an roten, leuchtenden Abenden in der Wärme des Schornsteins, im würzigen Duft nach Rauch und bitteren Fischen, bis es Zeit wurde zur Nachtruhe im Rettungsboot. Und morgens standen wir pünktlich um acht im Speisesaal am Buffet, das Tablett geübt gegen die Hüfte geklemmt.
    Nach der Rückkehr saßen wir wieder abendelang am Abhang über der Elbe; unter uns tanzten Lichter auf den Wellen; der Himmel schimmerte wie eine Austernschale. Jetzt bloß nicht nachdenken, dachte ich. Ich wusste, wie abstoßend das Nachdenken war, das Grübeln, die Hölle der Reflexion. Man bekam Pickel davon, Hämorrhoiden und schlechte Laune.
    Trotzdem musste ich dann manchmal an meine Schulzeit denken, an Sophie Mevissen, die in Multitude-Sneakers ihre Gruppe anführte. Sie wohnte nur zwei Kilometer von mir entfernt. Doch sie wohnte nicht in einem Mietshaus wie wir, mit Fenstern in der Größe von Fernsehbildschirmen. Sie wohnte in einer Klinkervilla mit Garten und Panoramascheiben. Und während sie Sommerfeste im Poloverein feierte oder zu den Scheunenpartys im umgebauten Vierkanthof von Tassilo HebestreitsEltern ging, verbrachte ich die Tage und Nächte mit den unverkauften Zeitschriften, die mein Vater im Hinterraum seines Kiosks stapelte, bevor er sie als Remittenden an den Vertrieb zurückschickte.
    Manchmal hatte ich ihn auch während der Öffnungszeiten besucht, saß blätternd im Hintergrund, während der Vater als Silhouette der Vergeblichkeit vor der Luke stand, ausgeschnitten von einem fast sakralen Gegenlicht. So lernte ich alles über höhere Lebensformen, über die Lebensformen der Höheren, über Aufstieg und Fall. Ich umgab mich mit Gesichtern, deren Schönheit Sophie Mevissens leicht teigigen Teint oder die Segelohren Tassilo Hebestreits überstrahlte wie der Pfau das Sumpfhuhn.
    Ich hatte Umgang mit Menschen, die Sätze sagten wie: »Ich mache alles, was meinen Gefühlen entspricht«, »Wenn ich nicht schreiben würde, müsste ich mich umbringen« oder: »Das Größte ist, wenn mir auf dem Bürgersteig ein wildfremder Mensch entgegenkommt und sich für einen Song bedankt. Das ist schön und bedeutet mir sehr viel.«
    Manchmal nahm ich die Hefte mit in die Schule. Und während Tassilo Hebestreit sein Polohemd aufknöpfte und die Höhepunkte der Partys rekapitulierte und wenn ich mich dann schuldig fühlte, dass ich nicht eingeladen war, dann eröffnete mir ein Blick auf die Seiten die Möglichkeit der Gnade.
    Und jetzt sah ich in den schimmernden Himmel, hörte das melodische Gurgeln Pauls und hatte fast das Gefühl, auf die Gnade verzichten zu können. Chuck spuckte ins Wasser, und Zork reichte die Gabba-Flasche herum. Ich winkte sie großzügig durch, ließ Zebra den Vortritt; ihr Handrücken wischte Rinnsale von ihrem glänzenden Hals. Zork hielt die Flasche Paul anden Hals und wurde zornig, weil Paul es mit sich geschehen ließ; vor Zorn öffnete er gleich die nächste Flasche. Nach einer halben Stunde erschien Zebras Hund. Er trug einen Geschenkkorb im Maul; ich las die silberne Banderole: »3. Volkslauf Apotheker-Krankenkasse«.
    Zork griff zielsicher nach der Magnumflasche Duc de Gay-Lussac. Chuck machte sich über den Obstler her. Dann kletterte er auf die Laterne, wo er mit getrockneten Tomaten warf. Paul lachte sein wildes Lachen, das immer wie überrascht klang; Zebra verschlang die Salami mitsamt der bereiften Pelle. In ihren Augen sah ich den Amazonenblick Natacha Gilots in »Zapatista!«. Chuck sang »Hamburg, meine Perle«; Betty und Zebra lagen ihm symmetrisch zu Füßen. Ich musste an eins meiner Lieblingsfotos von Nina Löwitsch denken: The Scavengers, backstage im Le Plébiscite .
    Ich lehnte mich zurück, rauchte und lachte still. Dann fotografierte ich Zork, der

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