Ueberdog
als sänge Amy selbst; ich erkannte das lässige Fauchen in der Unterströmung ihrer Stimme, den Löwinnensound, der trotzdem wie nebenbei gesungen klang, als erzeugte sie ihn allein mit dem linken Lungenflügel.
Ich sah noch einmal hin. Betty verschwendete keinen Blick an die Textzeilen, die über den Monitor rollten; dafür ließ sie das Publikum nicht aus den Augen. Sie sang, als würde sie sich an etwas erinnern; mit leisem Lächeln, weil es ihr wieder eingefallen war. Ich sah noch einmal hin, aber jetzt sah ich nur noch Betty, die gute alte, arme, stinkende Betty, und es war nicht schwer zu erkennen, dass Betty ohne Zweifel die Lippen zum Playback bewegte.
Ich schaute zu dem Mann am Computer hinüber. Er verriet den Trick mit keiner Miene. Längst schaute er nicht mehr auf sein Display, sondern verfolgte Bettys Auftritt mit einem Blick, als hätte er eine Vision.
»Yes, I’ve been black«, sang sie, »but when I come back you won’t know, know, know.«
Ich starrte auf Bettys Perücke. Sie sah kompakt aus und räudig zugleich; Fladen aus schwarzem Teig, von einem betrunkenen Koch mit schwerer Kelle an den Kopf geklatscht, die über dem linken Ohr zäh herunterhingen und ständig drohten, zu Bodenzu tropfen. Doch mit einem Mal hatten Bettys Bewegungen die Schwere verloren, die ihre Tänze in der Philharmonie gehabt hatten; ich erkannte das hilflose Krängen nicht wieder, nicht das seufzende Schlingern eines Schiffs vor dem Untergang. Jetzt stand Betty sicher auf ihren Beinen, hielt das Mikrofonkabel in der Linken und beschränkte sich auf sparsame Gesten; ihr Tanz war ein Tanz des rechten Knies.
Ich konnte mir nicht helfen. Ich musste mich fallen lassen in diesen Song. Mein Hirn sang mit, automatisch; es kannte ja jede Zeile, jedes Wort, jeden Trompetenstoß.
»I ain’t got the time«, sang es, »and if my daddy thinks I’m fine –«
Dann hörte mein Hirn wieder Amys Stimme aus den Boxen – »The man said, why d’you think you’re here / I said I got no idea« –, und willenlos antwortete es: »I’m gonna, I’m gonna lose my baby / So I always keep a bottle near.«
Da hörte ich auf zu singen. Denn Amy sang nicht mehr mit.
Ich sah Betty an, die ebenfalls aufgehört hatte, die Lippen zu bewegen. Ich hörte die mechanische, leerlaufende Schlagzeugbegleitung, die scharfen Fanfaren der Blechbläser; plötzlich stießen sie in ein Vakuum. Betty schien kein bisschen nervös; sie stand da in ihrer souveränen, schläfrigen Haltung, schlackerte weich mit dem Knie, richtete wie abwesend mit der rechten Hand die Haarskulptur.
Beharrlich und vergeblich schlug das Schlagzeug, bliesen die Bläser eine Melodie herbei, die nicht kam. Dann, mit einem Räuspern, das ich auf keiner Aufnahme je gehört hatte, setzte Amy wieder ein, und Betty bewegte von neuem ihre breiten, plötzlich wie höhnisch unter die Nasenspitze gezogenenLippen: »It’s not just my pride / It’s just till these tears have dried.«
Und in diesem Moment fing ich an zu weinen.
Was mir die Tränen in die Augen trieb, war nicht so sehr die Erkenntnis, der jähe, überirdisch klare Gedankenblitz, dass es wirklich Amy Winehouse war, die hier auf der Bühne der Karaoke-Bar Super Sound in der Hamburger Seilerstraße ihre Auferstehung feierte. Es war die zutiefst körperliche Wahrnehmung einer nahen, fremden Energie, die mich packte; ein Gefühl ähnlich dem, wenn man an der Lufttemperatur spürt, dass man eine Herdplatte abzustellen vergessen hat, oder der Gewissheit, dass ein atmender Mensch hinter einem steht. Es war ein Moment elementaren Erkennens, wie ein Geruch, der einen an ein Land erinnert, das man vielleicht nur in einem Traum gesehen hat. Oder das Sirren in der Luft, das von einer Starkstromleitung kommt; das Gefahr signalisiert und Kraft.
Amy setzte zum Schlussrefrain an, und alles passte jetzt zusammen; die in die Hüfte gestemmten, tätowierten Arme; das Ferrari-Logo auf der Haut, der Schriftzug »Daddy’s Girl«.
Nur kurz fragte ich mich, wie es möglich war, einen Tod zu fälschen. Ich hatte einiges gehört; ich erinnerte mich an Berichte über Eheflüchtlinge, über Versicherungsbetrüger, über fingierte Abschiedsbriefe von portugiesischen Steilküsten. Ich hatte von Bootsfahrten ohne Zeugen gelesen, vom Großbrand im Wochenendhaus, der nichts als Asche hinterließ. Ich kannte die Theorien über Elvis, über Michael Jackson; unscharfe Bilder von einer Tankstelle in Nebraska, Videos von einem Leichenwagen, dem ein Schatten
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