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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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erschienen.«
    »Oh, es geht trotzdem weiter.«
    »Es geht weiter?«
    »Na, es ist zu spät.«
    »Zu spät?«
    »Na, Sie werden schon sehen. Es wird Ärger geben.«
    Das war beunruhigend, aber ich erzählte nichts davon an Deck. Mrs. Nettlepoint zog sich frühzeitig in ihre Kabine zurück und behauptete, unendlich müde zu sein. Ich wusste nicht, wie es »weiterging«, aber Grace Mavis hielt sich nach wie vor verborgen. Ich schaute spät noch einmal bei meiner Freundin vorbei, um gute Nacht zu sagen,und erfuhr von ihr, dass das Mädchen auch nicht bei ihr gewesen war. Sie hatte die Stewardess zu ihrer Kabine geschickt, um Neues zu erfahren, um nachsehen zu lassen, ob sie krank war und Hilfe brauchte, und die Stewardess war lediglich mit der Nachricht zurückgekehrt, dass sie sie nicht angetroffen habe. Danach ging ich an Deck. Die Nacht war nicht ganz so schön und das Deck fast menschenleer. Im nächsten Augenblick gingen Jasper Nettlepoint und unsere junge Dame an mir vorbei. »Ich hoffe, es geht Ihnen besser!«, rief ich ihr nach, und sie warf mir einen Blick über die Schulter zu: »O ja, ich hatte Kopfschmerzen, aber die frische Luft tut mir gut!«
    Ich ging wieder hinunter – ich war außer den beiden die einzige Person oben und wollte nicht den Eindruck erwecken, ihnen nachzuschnüffeln –, und als ich zu Mrs. Nettlepoints Kabine zurückkehrte, merkte ich (ihre Tür stand zum Korridor hin offen), dass sie noch nicht zu Bett gegangen war.
    »Es geht ihr gut!«, sagte ich. »Sie ist mit Jasper an Deck.«
    Die gute Dame sah von ihrem Buch zu mir auf. »Ich wusste nicht, dass Sie das gut nennen.«
    »Nun, es ist besser als manch anderes.«
    »Was denn anderes?«
    »Etwas, was ich ein wenig befürchtet hatte.« Mrs. Nettlepoint sah mich weiterhin an. Sie fragte erneut, was ich meinte. »Ich erzähle es Ihnen, wenn wir an Land sind«, sagte ich.
    Am nächsten Tag machte ich ihr zur üblichen morgendlichen Stunde meine Aufwartung und traf sie mehr als beunruhigt an. »Es hat eine erste Szene gegeben«, sagte sie. »Sie erinnern sich, ich habe Ihnen vorausgesagt, dergleichen werde unweigerlich auf mich zukommen! Sie haben mich gestern Abend nervös gemacht – ich habe nicht die geringste Ahnung, was Sie mir sagen wollten, aber Sie haben mich schrecklich nervös gemacht. Vor einer Stunde kam sie zu mir, um mich zu sehen, und ich hatte den Mut, ihr zu sagen: ›Ich weiß nicht, warum ich Ihnen nicht offen sagen sollte, dass ich meinen Sohn Ihretwegen getadelt habe.‹ Natürlich fragte sie mich, was ich damit meinte, und ich ließ es sie wissen. ›Mir scheint, er schleppt sie zu viel auf dem Schiff herum, für ein Mädchen in Ihrer Situation. Er verhält sich, als habe er vergessen, dass Sie jemand anders gehören. Das ist geschmacklos, ja respektlos.‹ Das Ganze mündete in einem Gefühlsausbruch: Sie wurde ziemlich heftig.«
    »Meinen Sie ungehalten?«
    »Ja, ungehalten und vor allem völlig konfus und aufgeregt, als ich es wagte, ihr Verhältnis mit meinem Sohn als nicht gerade die einfachste Sache der Welt zu bezeichnen. Ich könne ihn schelten, so viel ich wollte – das sei meine und seine Angelegenheit –, aber ihr sei unbegreiflich, warum ich dergleichen ihr gegenüber erwähnte. Sei ich der Ansicht, dass sie ihm erlaube, sie respektlos zu behandeln? Diese Vorstellung sei für sie beide kein großesKompliment! Er habe sie besser behandelt und sei freundlicher zu ihr gewesen als die meisten anderen Leute – es wären nur wenige an Bord, die sich ihr gegenüber nicht unverschämt verhalten hätten. Sie werde froh sein, wenn sie endlich fortkomme, zu ihrer eigenen Familie, zu jemandem, über den zu sprechen niemand das Recht habe. Was an ihrer Situation sei denn nicht vollkommen normal? Was solle die ganze Aufregung? Ob ich glaubte, dass sie es zu sehr auf die leichte Schulter nehme – dass sie nicht so an Mr. Porterfield denke, wie sie sollte? Ob ich denn nicht glaubte, dass sie ihn liebe – ob ich denn nicht glaubte, dass sie die Stunden zähle, bis sie ihn wiedersehen würde? Dies werde der glücklichste Moment ihres Lebens sein. Sollte ich etwas anderes denken, beweise das nur, wie wenig ich sie kannte.«
    »Das alles muss ja ganz großartig gewesen sein – ich hätte es gern miterlebt«, sagte ich, nachdem ich meiner Freundin regelrecht an den Lippen gehangen hatte. »Und was haben Sie geantwortet?«
    »Oh, ich kroch zu Kreuze. Ich versicherte ihr, dass ich ihr – was meinen Sohn anging – nichts
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