Überfahrt mit Dame
Schlimmeres unterstellte als übertriebene Gutmütigkeit. Sie helfe ihm, sich die Zeit zu vertreiben – er sollte ihr ungeheuer dankbar sein. Auch dass es für mich ein sehr glücklicher Moment sein werde, wenn ich sie an Mr. Porterfield übergeben kann.«
»Und werden Sie heute an Deck kommen?«
»Nein, wirklich nicht – ich glaube, sie kommt jetzt wunderbar zurecht.«
Diesmal ließ ich einen Seufzer der Erleichterung vernehmen. »Ende gut, alles gut!«
Jasper verbrachte den Tag größtenteils mit seiner Mutter. Sie hatte mir erzählt, dass es ihr bislang an einer günstigen Gelegenheit gefehlt habe, mit ihm über die nächsten Schritte nach der Landung zu sprechen. In den letzten zwei, drei Tagen einer Reise ändert sich alles. Der Zauber ist gebrochen, und es bilden sich neuen Verbindungen heraus. Grace Mavis erschien weder an Deck noch zum Abendessen, und ich lenkte Mrs. Pecks Aufmerksamkeit auf die außerordentliche Schicklichkeit, die ihr Handeln nunmehr bestimmte. Sie habe den Tag damit verbracht, nachzudenken, und halte es für das Beste, weiterhin nachzudenken.
»Ach, sie hat nur Angst«, sagte meine unerbittliche Tischnachbarin.
»Angst wovor?«
»Na, dass wir Geschichten erzählen, wenn wir ankommen.«
»Wen meinen Sie mit ›wir‹?«
»Na, da gibt es genug – auf einem Schiff wie diesem.«
»Dann glaube ich, wir werden es nicht tun«, erwiderte ich.
»Womöglich werden wir keine Gelegenheit dazu haben«, sagte die grässliche kleine Frau.
»Bei einem solchen Anlass« – ich sprach aus reichlicher Erfahrung – »regiert universelle Herzlichkeit.«
Dieses Prinzip jedoch war Mrs. Peck reichlich fremd. »Ich glaube, sie hat trotzdem Angst.«
»Umso besser!«
»Ja – umso besser!«
Auch den ganzen nächsten Tag lang blieb das Mädchen unsichtbar, und Mrs. Nettlepoint sagte mir, sie habe sich auch bei ihr nicht blicken lassen. Sie selbst habe über die Stewardess bei ihr angefragt, ob sie vielleicht Miss Mavis in ihrem eigenen Quartier aufsuchen dürfe, und die junge Dame habe erwidert, in ihrer Kabine herrsche Chaos, sie sei für Besucher derzeit ungeeignet: Sie sortiere die Reisetruhe neu. Jasper entschädigte sich für die Ergebenheit, die er am Vortag seiner Mutter gegenüber gezeigt hatte, indem er die meiste Zeit im Raucherzimmer verbrachte. Ich wollte zu ihm sagen: »Das ist viel besser«, hielt es aber für klüger, den Mund zu halten. Tatsächlich machte sich das Gefühl der bevorstehenden Ankunft breit – die Emotionen, die bei der Rückkehr nach Europa aufkamen, waren stets unvermindert stark –, so dass ich anderen Angelegenheiten weniger Aufmerksamkeit widmete. Zweifellos wird es dem kritischen Leser so vorkommen, als wäre mein Interesse an den gewöhnlichen Ereignissen, von denen meine Geschichte erzählt, unverhältnismäßig groß gewesen, doch kann ich darauf nur erwidern, dass die Geschehnisse mir recht gebensollten. Ungefähr bei Sonnenuntergang sichteten wir Land, die undeutliche, aber üppige Küste Irlands, und ich lehnte am Schanzkleid und genoss den Anblick. »Es sieht gar nicht mal so außergewöhnlich aus, nicht wahr?«, hörte ich eine Stimme, und als ich mich umdrehte, stand Grace Mavis neben mir. Beinahe zum ersten Mal hatte sie ihren Schleier gelüftet, und sie kam mir sehr blass vor.
»Morgen sieht man mehr«, sagte ich.
»O ja, sehr viel mehr.«
»Wenn man auf See zum ersten Mal Land sichtet, ändert sich alles«, fuhr ich fort. »Es kommt mir immer so vor, als ob man aus einem Traum erwacht. Es ist eine Rückkehr in die Wirklichkeit.«
Einen Moment lang blieb sie eine Antwort schuldig, dann sagte sie: »Es sieht beinahe noch unwirklich aus.«
»Ja, einstweilen, an diesem schönen Abend, könnte man meinen, der Traum sei noch nicht zu Ende.«
Sie blickte zum Himmel, der hell leuchtete, obwohl das Sonnenlicht bereits verschwunden war und die Sterne noch nicht zu funkeln begonnen hatten. »Es ist ein schöner Abend.«
»O ja, so lässt sich’s leben.«
Sie blieb noch ein paar Augenblicke stehen, während die zunehmende Dunkelheit die Konturen des Landes schneller verwischte, als unser Näherkommen sie weiter hervortreten ließ. Sie sagte nichts mehr, sie blickte nurgeradeaus. Ihr Schweigen veranlasste mich, etwas Mitfühlendes zu sagen oder meine Dienste anzubieten. Es war schwierig, den richtigen Ton zu treffen – einiges schien zu weit hergeholt und anderes zu aufdringlich. Schließlich war sie es, die mir unerwartet auf die Sprünge half.
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