Überfahrt mit Dame
gegangen.«
»Ja, natürlich.« Und ich folgte dem vorzüglichen Beispiel der jungen Dame.
Am nächsten Morgen, als ich mich ankleidete, erschien wie immer der für meine Schiffsseite zuständige Steward, um sich zu erkundigen, ob ich etwas benötigte. Doch das Erste, was er zu mir sagte, war: »Ziemlich schlimme Geschichte, Sir – ein Passagier wird vermisst.« Und während mich sofort ein seltsames Frösteln überkam, fuhr er fort: »Eine Dame, Sir – ich glaube, Sie kannten sie. Die arme Miss Mavis, Sir.«
»Vermisst?«, rief ich und starrte ihn entsetzt an.
»Sie ist nicht an Bord. Sie können sie nicht finden.«
»Wo ist sie dann, um Himmels willen?«
Ich erinnere mich an seinen ungewöhnlichen Gesichtsausdruck. »Nun, Sir, das wissen Sie wohl so gut wie ich.«
»Meinen Sie, sie ist über Bord gesprungen?«
»Irgendwann in der Nacht, Sir – klammheimlich. Aber niemand begreift, wie sie das unbeobachtet tun konnte. Normalerweise hätte man sie bemerken müssen, Sir. Es muss ungefähr halb drei gewesen sein. Herrgott, aber sie war schnell, Sir. Sie hat keinerlei Aufsehen erregt. Man sagt, sie sei gegen ihren Willen mitgereist, Sir.«
Ich war auf mein Sofa gesunken – fühlte mich einer Ohnmacht nahe. Der Mann redete weiter, so wie es Menschen seiner Klasse gern tun, wenn sie etwas Schreckliches zu berichten haben. Sie habe normalerweise früh nach der Stewardess geklingelt, aber heute Morgen natürlich nicht. Die Stewardess sei trotzdem ungefähr um acht Uhr hineingegangen und habe die Kabine leer vorgefunden. Dies sei vor einer guten Stunde geschehen. Ihre Sachen hätten alle durcheinandergelegen – die Sachen, die sie für gewöhnlich trug, wenn sie hinaufging. Der Stewardess sei sie am Abend zuvor etwas seltsam vorgekommen, sie habe aber eine Zeitlang gewartet und sei dann noch einmal nachsehen gegangen. Miss Mavis sei immer noch nicht da gewesen – und tauchte auch nicht wieder auf. Die Stewardess habe nach ihr zu suchen begonnen – man hätte sie weder an Deck noch im Salon gesehen. Zudem wäre sie nicht zum Ausgehen gekleidet gewesen. Alle ihre Kleider lägen ja in ihrem Zimmer. Es gäbe da noch eine andere Dame, eine alte Dame, Mrs. Nettlepoint – ich würde sie kennen –, mit der sie manchmal zusammengewesen sei, aber die Stewardess sei bei ihr gewesen und wisse, dass Miss Mavis an jenem Morgen nicht dort war. Sie habe mit ihm gesprochen, und sie hätten sich stillschweigend umgesehen – sie hätten überall gesucht. Ein Schiff sei ziemlich groß, aber irgendwann habe man es ganz durchsucht, und wenn eine Person nicht auffindbar wäre, nun, dann gäbe es nur noch die eine Möglichkeit. Kurzum, eine Stunde sei verstrichen, und die junge Dame bliebe unauffindbar: Daraus ließe sich der Schluss ziehen, dass man sie niemals finden werde. Die Wache wisse nicht, wo sie sei, aber zweifellos wüssten es die Fische im Ozean – arme, elende, bedauernswerte Dame! Die Stewardess und er hätten es natürlich für ihre Pflicht gehalten, sofort mit dem Doktor zu sprechen, und der Doktor habe unverzüglich den Kapitän informiert. Der Kapitän sei darüber nicht glücklich gewesen – das seien die nie –, habe aber versucht, Stillschweigen zu bewahren – das machten sie immer.
Bis es mir gelungen war, meine Fassung wiederzuerlangen und mich einigermaßen vollständig anzukleiden, hatte ich erfahren, dass man Mrs. Nettlepoint noch nicht benachrichtigt hatte, es sei denn, die Stewardess habe es ihr in den letzten paar Minuten mitgeteilt. Ihr Sohn, der junge Gentleman auf der anderen Seite des Schiffs, wisse Bescheid – für ihn sei der andere Steward zuständig. Mein Gewährsmann hatte ihn aus seiner Kabine gehen und hinaufeilen sehen, kurz bevor er zu mir kam. Er sei nach oben gegangen, dessen war sich mein Mann sicher, nicht zu der Kabine der alten Dame. Erneut überkommt mich das gleiche Gefühl wie in jenem Moment, etwas Schreckliches zu sehen, eine wilde Eingebung, ausgelöst durch die Worte des Stewards, ein blitzartiges Bild von Jasper Nettlepoint, wie er, wahnsinnig vor Gewissensbissen und mit jugendlicher Behändigkeit, über Bord springt. Ich muss jedoch rasch hinzufügen, dass kein solcher Zwischenfall einen grausigen Nachtrag zu der unbeobachteten und unerklärlichen tragischen Tat der armen Grace Mavis hinzufügen sollte. Was folgte, war traurig genug, aber ich kann nur einen kurzen Blick darauf werfen. Als ich Mrs. Nettlepoints Tür erreichte, stand sie mit einem Schultertuch da. Die
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