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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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– ihr bestes – im Vergleich hierzu?
    »Sind Sie bereit, Verantwortung zu übernehmen?«
    »Für Sie?«
    »Liebe Güte, nein – für die junge Dame. Ich spreche natürlich von Miss Mavis.«
    »Ach ja, meine Mutter hat mir erzählt, dass Sie sich viele Gedanken über sie machen.«
    »Genau wie Ihre Mutter inzwischen auch.«
    »Das sagt sie aus Gutmütigkeit – um Ihnen einen Gefallen zu tun.«
    »Sie täte mir einen viel größeren Gefallen, wenn sie mich beschwichtigen könnte. Ich weiß natürlich, dass Sie wissen, was ich ihr von dem Klatsch, der über Miss Mavis in Umlauf ist, erzählt habe.«
    »Ja, aber was um Himmels willen bedeutet das schon.«
    »Es hat die Bedeutung eines Zeichens.«
    »Eines Zeichens wofür?«
    »Dafür, dass sie sich in einer unglücklichen Lage befindet.«
    Jasper rauchte seine Zigarre, den Blick auf den Horizont geheftet, und ich hatte das unerwartete Gefühl, bei ihm eine gewisse Wirkung zu erzielen. »Ich weiß nicht, ob das, was Sie zu bereden versuchen, Sie etwas angeht, was ich aber ganz bestimmt weiß, ist, dass es auf mich nicht zutrifft. Was habe ich mit dem Tratsch einer Schar alter Weiber zu tun, die sich darüber hinwegtrösten, nicht seekrank zu sein?«
    »Nennen Sie es Tratsch, dass Miss Mavis in Sie verliebt ist?«
    »Geschwätz.«
    »Dann«, erwiderte ich, »sind Sie sehr undankbar. Der Klatsch einer Schar alter Frauen will Folgendes bedeuten:Sie vermutet oder weiß, dass er existiert, und anständige Mädchen sind in dieser Hinsicht meist hochsensibel. Die Bereitschaft, dem keine Beachtung zu schenken, muss in diesem Fall einen Grund haben, und der Grund kann nur der sein, auf den ich so frei war, ihre Aufmerksamkeit zu lenken.«
    »In mich verliebt in sechs Tagen, einfach so?«, und er blickte immer noch mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne.
    »Über Geschmack lässt sich nicht streiten, und sechs Tage auf See entsprechen sechzig an Land. Ich will nicht, dass Sie sich allzu viel darauf einbilden. Wenn Sie natürlich Ihrer Verantwortung nachkommen, ist alles in Ordnung, und ich habe nichts weiter zu sagen.«
    »Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, erwiderte er sogleich.
    »Sie müssen doch inzwischen darüber nachgedacht haben. Sie ist verlobt, soll heiraten, und der Gentleman, mit dem sie verlobt ist, soll sie in Liverpool in Empfang nehmen. Das ganze Schiff weiß es – obwohl ich es ihnen nicht erzählt habe! –, und das ganze Schiff beobachtet sie. Das ist unverschämt, wenn Sie so wollen, genau wie ich selbst unverschämt bin, aber wir hier bilden zusammen eine kleine Welt und können ihre Bedingungen nicht ignorieren. Ich frage Sie, ob Sie bereit sind, ihr zu gestatten, den eben erwähnten Gentleman um Ihretwillen aufzugeben.«
    Jasper sprach, ohne zu zögern, als hätte er nichts verstanden. »Um meinetwillen?«
    »Um Sie zu heiraten, wenn sie die Verlobung löst.«
    Er wandte den Blick vom Horizont ab und sah mich an, und ich entdeckte einen merkwürdigen Ausdruck in seinen Augen. »Hat Miss Mavis Ihnen den Auftrag erteilt, in dieser Sache zu verhandeln?«
    »Nicht im Geringsten.«
    »Nun, dann verstehe ich nicht ganz …«
    »Ich spreche nicht für irgendjemanden. Regeln Sie das selbst – allein .«
    »Herrgott, was glauben Sie denn, was für ein Leben ich führe!«, rief er, als hätte er Mitleid mit meiner Einfältigkeit. »Das ist eine Frage, die mir die junge Dame stellen kann, wann immer es ihr gefällt.«
    »Lassen Sie mich also meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass sie es tun wird. Aber was werden Sie antworten?«
    »Mein lieber Sir, mir scheint, dass Sie trotz all der Ansprüche, die Sie geltend machen, keinen Grund haben, anzunehmen, dass ich Ihnen das sagen werde.« Er wandte sich ab, und ich widmete dem Gedenken unserer jungen Frau in vollkommener Aufrichtigkeit einen tiefen schmerzvollen Seufzer. Daraufhin, eingedenk dieses Eindrucks, wandte er sich noch einmal mir zu, musterte mich von Kopf bis Fuß und fragte: »Was verlangen Sie von mir?«
    »Ich habe Ihrer Mutter gesagt, dass Sie zu Bett gehen sollten.«
    »Das sollten Sie lieber selbst tun!«, erwiderte er.
    Damit ging er fort, und mir kam der triste Gedanke, dass das einzige klare Ergebnis meines Unternehmens wahrscheinlich war, ihm lebhaft vor Augen geführt zu haben, dass sie ihn liebte. Mrs. Nettlepoint kam herauf, so wie sie es angekündigt hatte, doch der Tag war bereits halb vorüber: Es war fast drei Uhr. Sie war in Begleitung ihres Sohnes, der sie an Deck einführte,
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