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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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Tropenluft zu spüren. Ich werde gehen und mich mit einer Zigarre im Schlingerbord abkühlen.« Das »Schlingerbord« ist ein bestimmter Bereich des Schiffes, in dem Rauchen erlaubt ist, und dorthin wandte sich Mr. Morris. Forrest begleitete ihn jedoch nicht, sondern ging nach vorn zum Schiffsbug, setzte sich auf ein zusammengerolltes Segel und grübelte über sein einsames Leben.
    An Bord der Serrapiqui öffnete sich die obere Reihe der Kabinen zu einer langen Galerie, die um jenen Teil des Schiffs unmittelbar über dem Salon führte, so dass man von dort einen erfreulichen Blick auf die Köstlichkeiten werfen konnte, die gerade serviert wurden. An Bord dieser Schiffe ist es üblich, vor dem Abendessen zwei Glocken im Abstand von einer halben Stunde zu läuten. Beim ersten Glockenton gehen die Damen in ihre Kabinen, um sich frischzumachen, doch da die Kleiderordnung auf See nicht übertrieben streng ist, sind diese Vorbereitungen für gewöhnlich abgeschlossen, bevor die zweite Glocke erklingt, und die weiblichen Passagiere versammeln sich ungefähr fünfzehn Minuten vor dem Essen auf der Galerie. Zunächst sind sie dort unter sich, doch nach und nach stoßen einige der unternehmungslustigeren Männer zuihnen, bis sich schließlich so etwas wie ein kleine Gesellschaft bildet. Die Kabinen von Miss Viners Mitreisenden öffneten sich zu einer Seite dieser Galerie und jene von Mr. Morris und Mr. Forrest zur anderen. Bislang hatte sich Forrest damit begnügt, auf seiner Seite zu bleiben und nur gelegentlich den Damen auf der anderen Seite etwas zuzurufen, doch an diesem Tag ging er mutig hinüber, sobald er sich die Hände gewaschen hatte, und nahm seinen Platz zwischen Amelia und Miss Viner ein.
    »Hier ist es schrecklich überfüllt, Ma’am«, sagte Amelia.
    »Ja, meine Liebe, das stimmt«, sagte ihre Mutter. »Aber was soll man machen?«
    »Im Damensalon ist jede Menge Platz«, sagte Miss Viner. Also wenn es einen Raum an Bord eines Schiffes gibt, den die Damen noch mehr hassen als jeden anderen, dann diesen Damensalon. Mr. Forrest wich nicht von der Stelle, doch darf man bezweifeln, ob er das auch getan hätte, wenn er Amelias Anspielung gänzlich verstanden hätte.
    Dann läutete die letzte Glocke. Mr. Mürrisch bot Mrs. Mürrisch seinen Arm. Der Schwager bot Amelia seinen Arm, und Forrest bot seinen Miss Viner. Sie zögerte einen Moment und nahm ihn dann an, wodurch sie geistig und körperlich aus der Obhut des vernünftigen und verheirateten Mr. Mürrisch in die des vielleicht unvernünftigen und garantiert unverheirateten Mr. Forrestwechselte. Sie machte einen Fehler. Eine liebenswürdige, mütterliche alte Dame aus Jamaika, die alles mit angesehen hatte, wusste, dass sie einen Fehler beging, und wünschte sich, es ihr sagen zu können.
    Doch es gibt Dinge von der Art, die liebenswürdige alte Damen auszusprechen nicht übers Herz bringen. Schließlich war es nur für die Dauer der Reise. Vielleicht war Miss Viner unvernünftig, aber wer in Peru wäre klüger gewesen? Vielleicht lag die Welt falsch und nicht Miss Viner. Honni soit qui mal y pense , sagte sie sich, als sie seinen Arm nahm und beim Einhaken spürte, dass sie nicht mehr so einsam war wie zuvor. An jenem Tag gestattete sie ihm, ihr ein Glas Wein aus seinem Krug einzuschenken. »Sollten Sie nicht lieber meinen nehmen, Miss Viner?«, fragte Mr. Mürrisch laut, doch bevor man ihm antworten konnte, war die Tat vollbracht.
    »Nicht so hastig, alter Knabe«, sagte Morris an jenem Abend zu unserem Helden, als sie vor dem Schlafengehen zusammen an Deck spazieren gingen. »Solche Geschichten bringen einen in Schwierigkeiten, bevor man weiß, wo einem der Kopf steht.«
    »Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas Spezielles zu befürchten habe«, sagte Forrest.
    »Wohl nicht, aber halten Sie die Augen offen. Solche Zicken wie Mrs. Mürrisch lassen draußen in den Kolonien ihrer Zunge völlig freien Lauf. Sie werden feststellen, dass unangenehme Nachrichten an Bord des Schiffsbis nach Panama mitreisen, und jeder wird Sie beobachten.« So gewarnt, blieb Mr. Forrest wachsam, und während der nächsten anderthalb Tage kamen er und Miss Viner sich kaum näher. Dies waren die wohl langweiligsten Stunden seiner gesamten Reise.
    Miss Viner merkte das und zog sich zurück. Am Nachmittag jenes zweiten Tages ging sie an Deck ein oder zwei Runden mit ihrem kränklichen Schwager, und als Mr. Forrest näher kam, vertiefte sie sich in ihr Buch. Sie meinte es nicht böse, aber

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