Überfahrt mit Dame
wenn sie schon keine Angst vor dem Gerede der Leute hatte, warum verhielt er sich dann so? Also zeigte sie ihm beim Abendessen die kalte Schulter und wollte nicht von seiner Karaffe trinken.
»Nehmen Sie etwas von meinem, Miss Viner«, sagte Mr. Mürrisch laut und deutlich. Doch an jenem Tag trank Miss Viner keinen Wein.
Die Sonne geht schnell unter, wenn man sich den Tropen nähert, und das Tageslicht war bereits verschwunden und die Dunkelheit brach herein, als Mr. Forrest an jenem Abend kurz nach sechs auf das Deck hinausging. Die Nacht aber war schön und mild, und von den Bänken ertönte das Summen vieler Stimmen. Er war unglücklich und betrübt, hatte das Gefühl, verlassen worden zu sein. An Bord des Schiffs gab es nur eine Person, die er mochte, warum also sollte er ihr oder sollte sie ihm aus dem Weg gehen? Bald erblickte er sie. Familie Mürrisch hielt eine ganze Bank besetzt, und sie stand gegenüber und lehntean der Reling. »Möchten Sie heute Abend spazieren gehen, Miss Viner?«, fragte er.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie.
»Dann werde ich Sie so lange fragen, bis Sie es wissen. Es wird Ihnen guttun, denn ich habe Sie den ganzen Tag nicht spazieren gehen sehen.«
»Wirklich nicht? Dann drehe ich eine Runde. Oh, Mr. Forrest, wenn Sie wüssten, was es bedeutet, mit Leuten wie diesen zusammen sein zu müssen.« Und dann, an jenem Abend, entstand aus dem Gespräch so etwas wie die Vertrautheit echter Freundschaft zwischen den beiden. Sie erzählten sich Dinge, die nur Freunde einander erzählen, und die Antworten waren so herzlich, wie sie nur durch das Mitgefühl einer Freundschaft ausfallen können. Ach, beide waren töricht, denn Freundschaft und Mitgefühl sollten tiefere Wurzeln haben.
Sie erzählte ihm ihre ganze Geschichte. Sie reise nach Peru, um einen Mann zu heiraten, der fast zwanzig Jahre älter sei als sie. Sie seien seit langem verlobt, seit zehn Jahren. Als die Verlobung geschlossen wurde, habe man sie mit bestimmten Bedingungen verknüpft. Man habe ihr die Möglichkeit gegeben, sie zu lösen, doch diese Wahl bestünde nicht mehr. Er sei reich, und sie besitze keinen Penny. Er habe ihr sogar die Überfahrt und ihre Kleidung bezahlt. Sie habe nicht nachgegeben und diesen unwiderruflichen Schritt erst unternommen, als die letzten Mittel in England erschöpft waren. Die vergangenen beidenJahre habe sie bei einer Verwandten gelebt, die nun tot sei. »Er ist auch noch mein Cousin – ein entfernter Cousin –, verstehen Sie?«
»Und lieben Sie ihn?«
»Ihn lieben! Etwa so, wie Sie die geliebt haben, die Ihnen genommen wurde? So wie sie Sie liebte, als sie sich vor ihrem Tod an Sie klammerte? Nein, gewiss nicht. Eine solche Liebe werde ich niemals kennenlernen.«
»Ist er ein guter Mann?«
»Er ist ein harter Mann. Männer werden hart, wenn sie wie er Geldgeschäfte machen. Er war vor fünf Jahren in der Heimat, und damals habe ich mir geschworen, ihn nicht zu heiraten. Aber seine Briefe an mich sind freundlich.«
Forrest verharrte ein oder zwei Minuten schweigend, denn sie waren wieder vorn am Bug und saßen auf dem Segel, das um den Bugspriet zusammengerollt war, dann antwortete er ihr: »Eine Frau sollte nur einen Mann heiraten, den sie liebt.«
»Ach«, sagte sie, »natürlich verdammen Sie mich. Frauen werden immer so behandelt. Man lässt ihnen keine Wahl und beschimpft sie, weil sie die falsche Wahl getroffen haben.«
»Aber Sie hätten Ihn abweisen können.«
»Nein, das hätte ich nicht. Ich kann Ihnen das Ganze nicht begreiflich machen – wie es damals zu dem Heiratsantrag kam und wie ich unter bestimmten Bedingungeneinwilligte. Diese Bedingungen sind nun eingetreten, und ich bin an ihn gebunden. Ich habe sein Geld angenommen und kann nicht fliehen. Man kann leicht davon reden, dass eine Frau nicht ohne Liebe heiraten sollte, ebenso leicht wie man sagen kann, ein Mensch sollte nicht verhungern. Aber es gibt Menschen, die verhungern – sie verhungern, obwohl sie hart arbeiten.«
»Ich wollte Sie nicht verurteilen, Miss Viner.«
»Aber ich verurteile und verdamme mich selbst oft dafür. Wo werde ich in einer halben Stunde sein, wenn ich mich jetzt ins Meer stürze? Ich sehne mich oft danach, es zu tun. Spüren Sie nicht manchmal die Versuchung, mit allem Schluss zu machen?«
»Das Wasser wirkt kühl und lieblich, aber ich gebe zu, dass ich Angst habe vor dem, was danach kommt.«
»Genau wie ich, und diese Angst wird mich zurückhalten.«
»Jeder von uns muss seine
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