Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
geschnitten Brot bin«, erklärt Flom in seiner trockenen Art. Als er Ende der Vierzigerjahre in Harvard
anfing, war er bekannt dafür, dass er sich nie Notizen machte. »Die meisten von uns haben diesen typischen Erstsemesterquatsch
gemacht und in den Vorlesungen sorgfältig alles mitgeschrieben, die Mitschriften zu Hause zusammengefasst, die Zusammenfassung
eingedampft und dann das Ganze noch mal auf winzigen Zettelchen in Stichpunkten notiert«, erinnert sich Floms Kommilitone
Charles Haar. »So haben wir die Fälle auswendig gelernt. Nur Joe nicht. Der hatte keine Lust auf so was. Aber der hatte etwas,
das man als ›Anwaltsdenke‹ bezeichnen könnte. Er hatte eine großartige Urteilsfähigkeit.«
Flom wurde in der Fachzeitschrift
Law Review
erwähnt – eine Ehre, die nur den Jahrgangsbesten vorbehalten war. Während der »Einstellungssaison« in den Weihnachtsferien
seines zweiten Studienjahres ging er nach New York, um sich bei den großen Unternehmenskanzleien vorzustellen. »Ich war ein
plumper, schwerfälliger und dicker Junge. Ich habe mich sehr unwohl gefühlt«, |107| erinnert sich Flom. »Ich war einer von zwei Jungs in meinem Jahrgang, die am Ende der Einstellungssaison keinen Job hatten.
Dann hat mir eines Tages einer meiner Professoren von ein paar Jungs erzählt, die eine Kanzlei gründen wollten. Ich habe mich
vorgestellt, und die ganze Zeit während unseres Gesprächs haben die mir nur gesagt, wie riskant es sei, in einer Kanzlei anzufangen,
die noch keinen einzigen Klienten hat. Je mehr sie geredet haben, umso besser haben sie mir gefallen. Also habe ich gesagt,
was soll’s, ich riskier’s. Sie hatten Schwierigkeiten, die 3 600 Dollar zusammenzukratzen, die ich im ersten Jahr bekommen
sollte.« Zunächst bestand die Kanzlei lediglich aus Marshall Skadden, Leslie Arps (die beide von einer großen Kanzlei als
mögliche Partner abgelehnt worden waren) und John Slate, der für die Fluggesellschaft PanAm gearbeitet hatte. Flom war ihr
einziger Mitarbeiter. Sie hatten ein winziges Büro in der obersten Etage des Lehman Brothers Building an der Wall Street.
»Welche Fälle wir übernommen haben?«, fragt Flom und lacht. »Was gerade zur Tür hereinkam!«
Im Jahr 1954 wurde Flom einer der Partner, und die Kanzlei wuchs sprunghaft. Schon bald beschäftigte sie 100 Anwälte. Dann
200. Als sie die 300 erreichten, kam Morris Kramer, einer von Floms Partnern, zu ihm und sagte, er fühle sich schuldig, dauernd
junge Absolventen einzustellen. Die Kanzlei sei inzwischen so groß, meinte er, dass er sich kaum vorstellen konnte, wie sie
noch weiter wachsen sollte, um diesen jungen Juristen eine Möglichkeit zum Aufstieg bieten zu können. Flom erwiderte: »Mach
dir keine Sorgen, wir haben bald 1 000 Anwälte.« An Ehrgeiz mangelte es Flom nie.
Heute beschäftigt Skadden, Arps beinahe 2 000 Anwälte in 23 Niederlassungen in aller Welt und erzielt einen Jahresumsatz von
über einer Milliarde US-Dollar. Damit ist die Kanzlei eine der größten und mächtigsten der Welt. In Floms Büro hängen Fotos,
auf denen er mit George Bush Sr. und Bill Clinton zu sehen ist. Er lebt in einem weitläufigen Apartment in einem luxuriösen
Gebäude im Stadtteil Upper East Side von Manhattan. Wenn in den letzten |108| 30 Jahren ein Fortune-500-Unternehmen von einer Übernahme bedroht wurde oder selbst eine Übernahme vorbereitete, oder wenn
ein großer Fisch in Schwierigkeiten geriet, dann war Joseph Flom der Anwalt und Skadden, Arps die Kanzlei der Wahl. Und wenn
nicht, dann haben es die Betroffenen vermutlich bereut.
2.
Ich hoffe, dass Sie Geschichten wie diese inzwischen mit einer gehörigen Portion Skepsis lesen. Brillantes Einwandererkind
überwindet Armut und Weltwirtschaftskrise, bekommt keine Anstellung in etablierten Kanzleien und schafft es mit Köpfchen und
Ellenbogen allein nach oben. Das ist die altbekannte Geschichte »Vom Tellerwäscher zum Millionär«, und nach allem, was wir
inzwischen über Eishockeyspieler, Softwaremilliardäre und Termiten gehört haben, wissen wir, dass Erfolg nicht auf diese Weise
zustande kommt. Erfolgreiche Menschen arbeiten sich nicht allein nach oben. Es spielt eine ganz entscheidende Rolle, wo sie
herkommen. Sie sind immer das Produkt ihrer Umwelt und ihrer Umstände.
So wie wir uns Bill Joy und Chris Langan angesehen haben, wollen wir nun auch Joseph Flom aus der Nähe betrachten und dabei
all das zur Anwendung bringen,
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