Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
was wir in den ersten vier Kapiteln gelernt haben. Wir wollen nichts mehr von Floms Intelligenz,
seiner Persönlichkeit und seinem Ehrgeiz hören, obwohl er zweifelsohne all das im Überfluss mitbrachte. Keine Lobeshymnen
von seinen Klienten, die ihm seine Genialität bescheinigen. Keine schillernden Anekdoten vom kometenhaften Aufstieg von Skadden,
Arps, Slate, Meagher and Flom.
Stattdessen sehen wir uns eine Reihe von Geschichten aus der Welt der New Yorker Einwanderer an, in der Flom groß wurde –
die Geschichte eines anderen Jurastudenten, die Geschichte von einem Vater und einem Sohn namens Maurice und Mort Janklow
und die Geschichte eines außergewöhnlichen Ehepaars namens |109| Louis und Regina Borgenicht –, um eine entscheidende Frage zu beantworten: Was genau waren die Chancen, die Joseph Flom erhielt?
Da wir inzwischen wissen, dass Überflieger auf ihrem Weg nach oben Unterstützung erhalten, wollen wir uns die Umwelt von Joe
Flom ansehen und herausfinden, welche Umstände seinen Erfolg ermöglichten.
Wir erzählen uns Geschichten vom wundersamen Aufstieg eines Tellerwäschers zum Millionär, weil es uns fasziniert, uns vorzustellen,
wie ein einsamer Held im Angesicht von schier unüberwindbaren Schwierigkeiten triumphiert. Doch Joe Floms wahre Lebensgeschichte
ist sehr viel faszinierender als ihre mythologisierte Fassung. Alles, was ein Nachteil für ihn zu sein schien – dass er ein
Kind armer Textilarbeitern war, dass er in einer Zeit des aggressiven Antisemitismus Jude war und dass er in der Weltwirtschaftskrise
aufwuchs –, stellte sich wider Erwarten als Vorteil heraus. Joe Flom ist ein Überflieger. Doch nicht aus den Gründen, die
Ihnen möglicherweise spontan einfallen. Seine Geschichte ist eher eine Art Blaupause für den Erfolg in seiner Branche. Am
Ende dieses Kapitels werden wir sehen, dass wir die Lektionen von Joe Flom auf sämtliche Anwaltskanzleien von New York City
übertragen und den familiären Hintergrund, das Alter und die Herkunft der mächtigsten Rechtsanwälte der Stadt vorhersagen
können, und zwar ohne weitere Details über sie zu kennen. Aber ich will nichts vorwegnehmen.
Lektion 1: Warum es wichtig ist, ein Jude zu sein
3.
Einer von Joe Floms Kommilitonen an der juristischen Fakultät von Harvard war ein Mann namens Alexander Bickel. Wie Flom war
Bickel der Sohn osteuropäischer Juden, die in die Vereinigten Staaten eingewandert waren und in Brooklyn lebten. Wie Flom |110| hatte er eine staatliche Schule in New York besucht und schließlich am City College studiert. Und wie Flom war Bickel an der
Universität der Star seines Jahrgangs gewesen. Hätte nicht eine Krebserkrankung seine Laufbahn abrupt beendet, hätte Bickel
der führende Verfassungsrechtler seiner Generation werden können. Und wie Flom und die übrigen Jurastudenten fuhr Bickel während
der vorweihnachtlichen »Einstellungssaison« des Jahres 1947 von Harvard nach Manhattan, um dort eine Anstellung zu suchen.
Seine erste Anlaufstelle war Mudge Rose an der Wall Street, eine Kanzlei, die womöglich noch traditioneller und steifer war
als die übrigen Kanzleien der Zeit. Mudge Rose war im Jahr 1869 gegründet worden. Hier arbeitete Richard Nixon, ehe er im
Jahr 1968 die Präsidentschaftswahlen gewann. »Wir sind wie die feine Dame, die ihren Namen nur zweimal in der Zeitung wissen
will – anlässlich ihrer Geburt und ihres Todes«, sagte einst einer der Geschäftsführer. Bickel wurde in der Kanzlei herumgereicht
und führte mit den Partnern ein Vorstellungsgespräch nach dem anderen. Schließlich wurde er in die Bibliothek geführt, um
sich dem Seniorchef zu präsentieren. Sie können sich die Szenerie vielleicht vorstellen: mit dunklem Holz getäfelte Wände,
ein durchgescheuerter Perserteppich, Bücherregale mit in Leder gebundenen Gesetzeskommentaren und an der Wand die Ölporträts
von Mr. Mudge und Mr. Rose.
»Nachdem sie mich auf Herz und Nieren geprüft hatten, wurde ich dem Seniorchef vorgeführt«, erinnerte sich Bickel viele Jahre
später in einem Interview. »Der ließ sich herab, mir zu erklären, dass ich es für einen Jungen mit meiner
Vorgeschichte
« – Sie können sich vorstellen, wie Bickel eine kleine Pause machte, ehe er diesen Euphemismus wiederholte, mit dem der Seniorchef
seine Einwandererfamilie beschrieb – »sehr weit gebracht hatte. Aber ich müsse doch verstehen, dass es für eine Kanzlei wie
die seine kaum denkbar
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