Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
übernahmen viele Dialoge, die tatsächlich geführt worden waren. Damit war die Authentizität des Stückes gewahrt. Wenngleich auch nicht alle Personen, die in meinem Leben von 1933 bis 1945 eine Rolle gespielt haben, ins Stück aufgenommen werden konnten. Einzelne Figuren wurden zusammengefügt. Handlungsabläufe verkürzt. Mich störte das nicht. Ich unterstützte voll und ganz Volkers These: „Es gibt eine höhere Wahrheit, die muß man klar ausdrücken können. Da sind kleine biographische Details nicht so wichtig.“ Und damit wich er ja auch in keiner Weise von der Aussage meines Buches ab.
Ich hatte auch nichts dagegen, daß die Autoren eine Szene hinzufügten, die nichts mit meinen unmittelbaren persönlichen Erlebnissen zu tun hatte. Der ehemalige stellvertretende Leiter des Judenreferats der Berliner Gestapo forderte bei Kriegsende vom Besitzer der Blindenwerkstatt Otto Weidt einen „Persilschein“. Er sei nur ein kleines Rädchen im Getriebe gewesen, habe doch dem Weidt seine Hilfe für Juden bewiesen und Schlimmeres verhütet. Diese Szene entsprach dem Trend der Nachkriegszeit in der alten Bundesrepublik, in der man alles tat, um sein eigenes Engagement im Nazistaat aus der Erinnerung zu verdrängen. Es ist wahrlich kurios, daß diese Szene zu guter Letzt auch noch authentisch wurde. Irgendwann 1989 besuchte ich die Witwe eines jüdischen Arztes in einem Ostberliner Altersheim, die als Nichtjüdin Otto Weidt bei der Betreuung versteckter Juden unterstützt hatte. Bei dieser Gelegenheit erzählte sie, daß sie in den ersten Nachkriegstagen zugegen war, als Frau und Tochter dieses hochrangigen Gestapobeamten einen solchen „Persilschein“ von Weidt forderten.
Zwei Monate vor der Premiere lud mich Volker Ludwig nach Berlin ein. Er hielt es für wichtig, daß ich bei den letzten Proben zugegen war und beurteilte, ob es gelungen war, die Realität des Nazistaates zu treffen. Außerdem warteten die Schauspieler mit Fragen auf mich. Schließlich ging es jetzt auch für sie nicht mehr um irgendeine Rolle. Das Stück durfte keine Frage offenlassen, wenn es überzeugen sollte. Das konnte nur geschehen, wenn, wie Professor Guy Stern von der Wayne University in Detroit (USA) feststellte, „kompromißlose Offenheit, Aufrichtigkeit und Realitätstreue“ gewahrt blieben. Und das gelang den Autoren so gut, daß ich es fast nicht ertragen konnte.
Ich war gern nach Berlin gekommen. Das Manuskript schien mir vorzüglich geeignet, der deutschen Jugend die Wahrheit über die Nazizeit näherzubringen. Als ich dann im Theater zwischen den beiden Autoren saß und dem Spiel auf der Bühne folgte, erschrak ich. Ich hörte Sätze, die meine Mutter, mein Vater oder ermordete liebe Freunde tatsächlich gesprochen hatten. Ich erinnerte mich, wie schwer es mir gefallen war, diese Sätze niederzuschreiben. Das war viele Jahre her, und ich hatte es vergessen. Das auf der Bühne gesprochene Wort brachte die Erinnerung an die Vergangenheit in einer Weise zurück, die realistischer nicht hätte sein können. Ich mußte meine ganze Kraft aufbieten, um meine Emotionen zu überwinden und kühl und sachlich zu sein, weil sonst eine Objektivität und eine Beurteilung des Stückes nicht möglich gewesen wäre. Ich hätte diesen Test wohl kaum bestanden, wäre da nicht das Vertrauen gewesen, das ich Volker nun schon uneingeschränkt entgegenbrachte. Ich hatte wenig zu beanstanden. Gewiß, es gab hier und da Mißverständnisse im Text, die Volker ohne Zögern abänderte. Es handelte sich meist um Situationen, die nur jemand erklären kann, der die Zeit miterlebt hatte.
Je länger ich in den Proben saß, desto sicherer wurde ich. Und das hatte auch etwas mit der besonderen Art zu tun, in der Theaterleiter und Schauspieler miteinander umgingen. Hier gab es nichts Patriarchalisches, keine Stufengesellschaft, sondern menschliches Miteinander. Es erinnerte mich an die Formen der Gesellschaft, die ich aus dem frühen Israel kannte und im Nachkriegsdeutschland, auch unter Sozialisten, so vermißt hatte. Ich nahm wahr, daß es ihnen um ein gemeinsames Ziel ging, das da heißen könnte, den Menschen menschlicher zu machen. Sehr bald bekam ich das Gefühl, dazuzugehören zu dieser GRIPS -Familie, denn ich teilte ihre Aspirationen. Nun schien mir auch Volkers Frage, ob ich mir vorstellen könnte, wieder in Berlin zu leben, die er mir zu Anfang unserer Bekanntschaft gestellt hatte, längst nicht mehr so absurd. Sicher spürte er damals, wie sehr
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