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Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Titel: Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Deutschkron
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Schüler vor meinem Besuch mit der Geschichte der Nazizeit bekannt. Diese nüchterne Abhandlung mit Leben zu füllen, ist meine Aufgabe. In der Art, wie ich zu ihnen spreche, spüren sie wohl, daß ich junge Menschen mag, sie ernst nehme und daß ich nicht zu ihnen gekommen bin, um sie zu belehren. Ich berichte ihnen von einer Zeit, wie ich sie erlebt habe. Daraus entsteht schnell ein Gespräch.
    „Wußte man damals schon, auf was das hinausläuft, als Hitler an die Macht kam?“
    „Wie hat Hitler das Volk angelockt? Er kann doch nicht gleich gesagt haben, daß er gegen die Juden oder die Ausländer ist?“
    „Nach dem Krieg haben viele Leute behauptet, daß sie von den Konzentrationslagern nichts gewußt haben und daß Juden und andere Menschen in die Lager kamen. Kann das sein?“
    Das sind einige der immer wiederkehrenden Fragen, die Schüler an mich richten, ohne daß man sie dazu ermutigen muß. Manche Antworten fallen mir nicht leicht. Im besonderen, wenn es sich um die Organisation der furchtbaren Verbrechen an Menschen handelt. Wie kann man Kindern erklären, daß hohe Beamte über die Durchführung der vom Staat angeordneten Morde rein bürokratisch oder technisch nachdachten beziehungsweise nur darüber, wie man sauberer, rationeller und schneller mordet, und dies dann an Untergebene als Befehl zur Ausführung weitergaben? Eine Frage, auf die auch ich keine Antwort weiß.
    Viele Kinder fasziniert natürlich die Tatsache, daß ich zwei Jahre und vier Monate von Berlinern versteckt worden bin, um der Deportation in ein Vernichtungslager zu entgehen. In ihrer Phantasie stellen sie sich einen dunklen Keller vor, aus dem ich nie ans Tageslicht kam. Oder sie meinen, ich hätte wie ein Vagabund von einem Abenteuer zum nächsten fliehen müssen. Ihnen die Realität meines Lebens im Versteck darzustellen, von mutigen Freunden beschützt und betreut, gehört zu den Schwierigkeiten, ihnen zugleich das Deutschland unter den Nazis beschreiben zu können. „Ich habe gelogen, ich habe falsche Namen angenommen, ich habe gestohlen – zum Essen gestohlen.“ Die Kinder hören mir atemlos zu. Und ich füge hinzu: „Ich stehle bestimmt nicht mehr.“ Gelächter folgt dieser Feststellung. Auf die Frage der Schüler, wie es meiner Familie damals ergangen ist, und ich ihnen sagen muß, daß die meisten ermordet wurden, folgt entsetztes Schweigen. Das aufzulösen und zu einem offenen Gespräch zurückzukehren, erreiche ich meist nur, indem ich sie auf die Menschen, jene „anderen Deutschen“, wie sie vielfach im Ausland genannt werden, hinweise, die mir und anderen vor der Deportation versteckten Menschen unter Einsatz ihres Lebens unser Überleben ermöglichten.
    Die Initiative, Juden zu verstecken, ging von Menschen aus, die nicht untätig mitansehen wollten, wie man Juden diskriminierte, quälte und schließlich in den Tod trieb. Sie riskierten ihr Leben, um wenigstens einige den Krallen der Nazis zu entreißen. Sie kamen aus den unterschiedlichsten Kreisen. Einige handelten aus purer Menschlichkeit. Andere trieb ihre Religion zum Handeln. Und schließlich spielten auch politische Motive eine Rolle. Jene, die politische Gegner der Nazis geblieben waren, sahen im Verstecken von Juden eine Art des politischen Widerstandes gegen das verhaßte Naziregime.
    „Ich war so bewegt, gerührt und natürlich beeindruckt von Ihnen, daß ich am Ende Ihres Besuches noch unbedingt zu Ihnen kommen mußte, um Ihnen die Hand zu schütteln. Erinnern Sie sich noch an mich? Ich hatte einen schwarzen Pulli und eine graue Hose an.“ Jessica, 9. Klasse
    Nun erhebt sich die Frage, wie es plötzlich zu dem großen Interesse der Jugendlichen gekommen ist, Genaueres über den Nationalsozialismus und den Holocaust im besonderen erfahren zu wollen. In den Schulen steht der Nationalsozialismus auf dem Lehrplan. In den Gymnasien und Gesamtschulen, die ich zunächst hauptsächlich in Berlin besuchte, im 9./10. Schuljahr und wird im 11./12. Schuljahr in Kursen wieder aufgenommen. Doch auch die Jüngeren erfahren in ihrem Unterricht schon etwas über dieses Thema, etwa in Fächern wie Religion, Literatur oder Geschichte. Dokumentationen, Artikel und Filme in den Medien fördern zweifellos die Neugier der Jugendlichen. Denn trotz der ihnen vermittelten Informationen bleibt ihnen manches unklar, unverständlich, sogar unglaubhaft.
    „Ich kann es nicht glauben, daß sechs Millionen Juden gestorben sind. Die Geschichte war so grausam, daß man denken

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