Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
Meine Mutter und ich verlegten uns aufs Stehlen. Wir gingen an Felder heran, auf denen Gemüse gezüchtet wurde. Davon gab es als Folge der schlechten Ernährungslage viele im Umland von Berlin. Meine Mutter hatte ein starkes Handgelenk, mit dem sie Kohlköpfe abdrehte. Ich fing die „Ernte“ in einem Sack auf und hielt Wache, daß niemand uns störte. Meine Mutter arbeitete schnell. Als ich sie auf die große Menge der Kohlköpfe ansprach, die sie schon „geerntet“ hatte, bemerkte sie empört: „Was verlangst du eigentlich von mir: stehlen soll ich und dabei auch noch zählen?“ Wir lachten wie lange nicht mehr.
„Bitte begreife doch, du bist noch immer in Lebensgefahr.“ So bedrängte mich mein Freund Hans Rosenthal. Er wollte mir zu verstehen geben, daß auch die für die Nazis ungünstige Kriegslage sie nicht daran hinderte, entflohene Juden zu jagen. Rosenthal war Materialverwalter der Jüdischen Gemeinde. Es war ihm gelungen, gute Beziehungen zu einigen Berliner Grossisten aufzubauen, die ihn mit im Handel nicht mehr erhältlichen Waren belieferten. Die Gestapo hatte dies erkannt und ihn gezwungen, auch für sie derartige Waren heranzuschaffen. Dafür wurde er nicht deportiert. Seine Nähe zu den Mördern ergab, daß er uns mit Nachrichten über Aktivitäten der Gestapo versorgen konnte.
Er ließ uns wissen, daß die Gestapo eine Geflitztenkartei angelegt habe, in der sie die Namen aller derer verzeichnet hatten, die ihnen entkommen waren. Bei Personenkontrollen auf Straßen und in öffentlichen Verkehrsmitteln, die hauptsächlich Deserteuren der Wehrmacht und entflohenen Fremdarbeitern galten, waren versteckte Juden leicht zu identifizieren. Er warnte uns auch davor, leichtfertig Kontakte zu Unbekannten aufzunehmen. Viele Verhaftungen gingen auf Denunzierungen zurück.
Als meine Mutter und ich einmal mit der S-Bahn fuhren, stiegen am Bahnhof Zoo zwei Männer ein. Sie riefen den Reisenden zu, ihre Ausweise für eine Kontrolle bereitzuhalten. Zu unserem Glück begannen sie ihre Kontrolle im hinteren Teil des Wagens. So blieb uns noch Zeit, bei der Einfahrt in den Bahnhof Tiergarten aus dem vorderen Teil des Zuges zu springen und die Treppe hinunterzulaufen.
Es wurden auch jene Juden Beute der Gestapo, die ihren sie schützenden nicht-jüdischen Partner durch Scheidung oder Tod verloren hatten. Es sind Fälle bekannt geworden, in denen Beamte der Gestapo auf dem Friedhof darauf warteten, bis der Sarg in der Gruft verschwunden war, dann sofort den zurückbleibenden Juden griffen und ihn zum Sammelplatz für zu Deportierende führten.
„Ich kann Ihre Grüße an Alice leider nicht ausrichten. Sie ist nicht hier.“ Dieser mysteriöse Satz stand auf einer Postkarte aus Theresienstadt, die Berlin im Mai erreichte, auf der ein Freund von Alice ein von Weidt geschicktes Paket bestätigte. Es war ihm verboten, nähere Angaben zu machen. Tage danach löste sich das Rätsel. Eine weitere Postkarte, datiert vom 16. Mai 1944, traf in der Blindenwerkstatt ein. Darauf teilte Alice mit, daß ihre Eltern und sie nun im Zug von Theresienstadt ins Arbeitslager Birkenau säßen. Sie hatte diese Karte aus dem Zug geworfen. Jemand hatte sie aufgehoben und abgeschickt. Die deutsche Reichspost erhob Strafporto, denn es fehlte die Briefmarke.
Im Jahr 1944 fuhr die Deutsche Reichsbahn elf Transporte mit 389 Juden, die in Berlin aufgespürt worden waren, nach Auschwitz. Den letzten im Monat Oktober 1944. Zur gleichen Zeit wurden über 20.000 Menschen von Theresienstadt nach Auschwitz transportiert. Unter ihnen viele, die ursprünglich aus Deutschland in das sogenannte Vorzugslager Theresienstadt gebracht worden waren. Nun sollten auch sie ihr Ende in den Gaskammern von Auschwitz finden. Die Mörder hatten dazu allerdings nur noch einen Monat Zeit. Im November 1944 gab SS-Führer Heinrich Himmler Anweisung, die Gaskammern von Auschwitz abzuschalten. Den herannahenden russischen Truppen sollten die Verbrechen der Deutschen an Juden, Zigeunern, Polen, Russen, deutschen Kommunisten und anderen verborgen bleiben.
Otto Weidt war außer sich, als er Alices Karte entnahm, daß auch sie nun noch in Auschwitz einem schrecklichen Ende zugeführt werden sollte. Er beschloß, nach Auschwitz zu fahren, unter dem Vorwand, er sei Produzent von Besen und Bürsten und wollte sie der Lagerleitung zum Kauf anbieten. Er beliefere die Wehrmacht und verschiedene andere Lager und würde das auch für Auschwitz übernehmen. An dem von ihm
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