Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
gegen das Konsumprinzip des Pop wandte, eine Erfolgsexplosion auslöste. Arne weiß noch, wie das war, als Cobain sich das Leben nahm. Dirk stand an diesem Tag vor seiner Tür, kreidebleich, sein wuchtiger Körper füllte den ganzen Rahmen aus. Die Erinnerung macht Arne ein schlechtes Gewissen, als er die Beute des Tages in den Kofferraum seines Wagens räumt. Denn anders als Arne ist Dirk der alten Haltung treu geblieben. Er hörte nie auf, das Laute und Andere zu hören, Konzerte kleiner Bands zu besuchen und sich jedem Scheißegalgefühl zu verweigern. Er wurde nicht DJ in der eigenen Heimatstadt und dem Landkreis drumherum, sondern Streetworker in Frankfurt. Er will immer noch die Welt verändern. Der gute Dirk … ein Koloss der Konsequenz.
Merke ➙ Es gibt keine Konsequenz. Es gibt nur gute Tarnung.
Es ist bereits Mitternacht, aber die Party ist erst seit einer Stunde im Gange. Die 90er-Jahre-Veranstaltungen lässt der Club um 23 Uhr beginnen und dafür bis 7 Uhr laufen. Zum einen, weil sich dabei 800 statt der sonst üblichen 300 Gäste durch den Laden schieben. Zum anderen, weil die Leute einfach viel Kondition haben. Sie stehen alle voll im Leben, quer verteilt durch die Felder und Berufe. Arne sieht Zahnarzthelferinnen neben Tätowierten tanzen, schmale Schulreferendare neben schwitzenden Schweißern. Bis eben hat er zum Warmwerden B-Seiten und Semihits der alten Tage aufgelegt, aber jetzt kommt der erste Knaller. Die Gäste erkennen ihn schon, als der erste Ton der billig klingenden Synthesizerfläche ertönt. Eine Frau fängt an, seltsame Fuchtelbewegungen mit den Armen zu machen, wie es früher in den Musikvideos üblich war, wenn die Sängerin oder der Riesen-Rapper das Gesicht ganz nah in die Linse der Fischaugenkamera steckten. Den Refrain grölen alle mit, als seien sie in einem Rockstadion: »I know what I want and I want it now/ I want you cause I’m Mr. Vain!« BUMM-BUMM-BUMM . Culture Beat verwandeln den Laden das erste Mal heute Abend in eine einzige Bewegungszone. Alles tanzt, vom Platz vorm Pult bis zum schwarzen Vorhang am Eingang. Arne spielt »Omen« von Magic Affair, »Look Who’s Talking« von Dr. Alban und »No Limit« von 2 Unlimited, nachdem die Party zur Hälfte benannt ist. Zum anderen heißt sie so, weil sie ein Fest der Schamlosigkeit darstellt. Weil einfach alles geht. No Limit. Arne spielt »Barbie Girl« von Aqua und erwachsene Menschen toben. Arne hat sogar E-Rotic dabei, denen damals die unglaublichsten Texte einfielen. »Fred Don’t Have Sex With Your Ex«, ein Meisterwerk. Arne lacht in sich hinein. Die Produzenten des Euro Trash waren große Lyriker. Am schamlosesten dichteten Snap: »I’m as serious as cancer when I say rhythm is a dancer.« Man muss sich mal vorstellen, so einen Satz würde einer in einem Gespräch äußern: »Rhythmus ist ein Tänzer, Alter. Ich meine das so ernst wie Krebs!« Unglaublich.
Man kann nur noch schmunzeln, und das tun auch alle auf den abgewetzten, schwarz marmorierten Fliesen der Tanzfläche zwischen den knallroten Wänden und der Bar, hinter der Ayleen bis elf den Gratisprosecco für alle Ladys rausgehauen hat, damit sie warm werden. Jetzt sind sie warm, und Arne wird sie sogar heiß machen. Noch ein paar Tracks, dann kommt der erste Höhepunkt seines Set-Abschnitts für Dancemusik – Scooter. Er weiß es schon, und der eine oder andere Stammgast auch. Arne erinnert sich daran, wie wütend Dirk und er waren, als diese Truppe durchstartete. Sie dachten, das sei endgültig der Untergang allen Intellekts auf der Erde. Zu einer Zeit, in der Kurt Cobain mit dem Raunen der Verzweiflung seine Geschichte von »Polly« ins Mikrofon hauchte und Soundgarden zum besten Video aller Zeiten »Black Hole Sun« beschworen, stellte sich ein blonder Riese mit ADHS und Megafon hin und rief einfach nur »Hyper! Hyper!« Sogar die Elektro-Welt selbst regte sich auf, denn auch die nahmen sich damals so bierernst wie Dirk und Jan ihre Gitarrenmusik. Einige der damaligen Techno-Musiker waren stinksauer, dass Scooter sie in ihrem ersten Hit ganz offen grüßten und sich somit selbst auf die Ebene gleichberechtigter Kollegen hievten. Für sie waren Scooter die reine Kirmes und keine Szene. Von ihnen gegrüßt zu werden war so, als hätten Pur einen Hit geschrieben, in denen sie die frühen Tocotronic als Kollegen im Geiste bezeichnen. Ein frecher Trick. Und unfassbar visionär. Denn Scooter schienen damals schon zu wissen, was heute, im Jahre 2013, einfach
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