Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
so geschehen kann: Von ihnen kommt der letzte Song, bevor Arne Nirvana einspielt. Und niemanden regt es auf.
Was sagt die Wissenschaft? ➙ »Die 90er Jahre zeigen am besten, welchen Weg die Popkultur grundsätzlich geht«, sagt Prof. Gabriel Görlitz vom Institut für geschickte Geschmackssoziologie (IfgG) in Gallenweiler. »Wir sprechen dabei vom sogenannten Jugend-Delta. In einem speziellen Jahrzehnt spaltet sich der Lebensfluss der Menschen in ein paar Dutzend verschiedene Strömungen auf, die sich jeweils durch die Abgrenzungen zu den anderen definieren. Zehn bis fünfzehn Jahre später blicken die Beteiligten auf Luftkissenbooten über die Schulter aufs Delta zurück und stellen fest, dass es aus der Entfernung eine einzige gemeinsame grüne Oase ist. Nun lässt ihr Alter sie wieder gemeinsam auf einem Fluss fahren, denn die neue Abgrenzung lautet jetzt: Wir gegen die komische Jugend.«
»Put your hands in the air!«, schreit H. P. Baxxter, und alle, aber auch wirklich alle im Raum heben die Hände. Arne will es nicht, aber er bekommt jedes Mal hinter seinem Pult eine Gänsehaut, wenn er das sieht. Die Stimmung ist das erste Mal auf dem Siedepunkt. Mehr Adrenalin geht nicht. Die Zahnarzthelferin, der Tätowierte, der schmale Schulreferendar, der schwitzende Schweißer – sie rasten geschlossen aus. Und genau deshalb spielt Arne nach dem letzten Ton Scooters und einer halben Sekunde Stille »Smells Like Teen Spirit« von Nirvana. Weil es nicht mehr um Grenzen geht. Um Rock oder Techno, Indie oder Mainstream, Gut oder Böse, sondern nur noch um Stimmung oder Nicht-Stimmung. Um Party. Um Endorphine, die in diesem Raum weiter ungemindert sprießen, als das legendäre Gitarrenlick ertönt. Döng de löng – chick chicka – de döng de döng de löng – chicka chicka – de döng de döng de löng, ein paarmal und dann der Ausbruch, der Lärm, die aufpeitschende Melodie. Die Prosecco-Ladys treten zur Seite und machen mit gütigem Lächeln Platz für »ihre Jungs«, die nun ein wenig Pogo tanzen dürfen. Ein harmloses Geschubse, die Euphorie kommt von innen, niemand tut mehr jemandem weh. Viel lieber beugt man seinen Körper nach hinten in eine halbe Brücke, schließt die Augen und brüllt den Refrain mit wie damals, als alles noch bitterer Ernst war. Damals hatte der Mitbrüller seine Kotze auf dem Hemd. Heute ist es der Sabber des eigenen Kindes. Nach Nirvana wird er noch zu Pearl Jam, den Spin Doctors und den Ärzten tanzen, später aber wieder den Arm um seine Prosecco-Lady legen und mit ihr gemeinsam »Fading Like A Flower« oder »It Must Have Been Love« von Roxette mitsingen, Nase an Nase. Beide werden dabei lachen. Entweder darüber, dass sie das plötzlich heute ohne Scham genießen können, oder darüber, dass sie 1992 tatsächlich noch eine Kategorie wie peinliches Lieblingslied im Kopf hatten, weil das Wichtigste in ihrem Leben darin bestand, gut dazustehen, da noch kein Säugling existierte, den es einen Scheiß interessiert, ob Whigfield oder Soundgarden laufen, solange man rechtzeitig das Möhrengemüse mit Pute heranschafft. Scooter waren die Einzigen, die schon damals voraussahen, dass sich all die streng abgesteckten Claims und Grenzen spätestens dann, wenn alle Beteiligten ihre ersten Hypotheken haben, auflösen und zu einer einzigen gemeinsamen Jugendnostalgie verschmelzen. Scooter waren weise. Kein Wunder, dass H. P. Baxxter nebenbei die hochgeistige Literatur von Thomas Bernhard als Hörbuch einliest …
Merke ➙ Um richtig gut einfache Musik zu machen, muss man ein sehr kluger Mensch sein.
Gegen drei Uhr bekommt Arne den Blues, also spielt er ihn auch. Ein paar Gitarren zur blauen Stunde, »Still Got The Blues« von Gary Moore und ein bisschen ZZ Top, jemand wünscht sich AC/DC und bekommt »Thunderstruck«, da das Stück von 1990 ist, auch wenn das bei AC/DC keinen Unterschied zu denen aus anderen Jahren macht. Als letzten Song um 6:57 Uhr spielt Arne grundsätzlich »It’s The End Of The World As We Know It« von R.E.M. Da schummelt er dann, denn das Ende der Welt wurde drei Jahre vor den 90ern veröffentlicht. Allerdings lernten Leute wie die Zahnarzthelferin oder der schwitzige Schweißer, die heute bis zum Schluss bleiben werden, den Song erst in den 90ern kennen, nachdem das Mega-Album »Out Of Time« R.E.M. überhaupt erst mal ins Bewusstsein des großen Mainstreams hob und alle anfingen, alte Greatest-Hits-Sammlungen nachträglich zu kaufen.
Arne erinnert sich daran, wie
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