Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
zwischen Opas alten Hüten und Omas Messingtellern bunte Einzelstücke. Auch die pickt Arne sich heraus, wenn er sie sieht. Mit kindlicher Freude.
»Dieses Zeug«, das sind Alben und Maxi-CDs von Snap oder Dr. Alban, von Boybands wie Caught In The Act oder New Kids On The Block, alles von Roxette und selbstverständlich die gesamte Serie der Bravo Hits . Arne kauft die Sachen nicht einfach so, er kauft sie beruflich, als DJ, zum Auflegen bei No Limit! , der 90er-Jahre-Party. Es ist die günstigste Veranstaltung, die er jemals erfunden hat. Früher legte er in seinem Stammklub bei der Indie-Party auf. Das war teurer. Viel teurer. Ständig musste er eine ausgewogene Mischung aus Neuheiten, Klassikern und Importen hinbekommen, denn die anspruchsvollen Besucher wollten heute schon hören, was erst übermorgen aus Bristol, Antwerpen oder Omaha nach Deutschland rüberschwappen würde. Manche äußerten außerdem Wünsche, die so tief in die Spezialistenkiste griffen, dass Arne sich fragte, ob sie wirklich dazu tanzen oder nur mit ihrer Kenntnis angeben wollten. Irgendwann um drei Uhr nachts standen sie da, vor dem Pult, und fragten ihn, ob er auch Archers Of Loaf da hätte oder A Subtle Plague. Bei einer Indie-Party konnte Arne nie genug Musik mitnehmen. Und er kaufte immer für den Neupreis, in Spezialgeschäften mit rauchenden Hornbrillenträgern. Für die 90er-Party, diese einzigartige Nostalgiedisko des ersten Jahrzehnts nach der Wiedervereinigung, kauft er zu Spottpreisen auf dem Trödelmarkt, zwischen Wurstbude und Messingtellern.
Merke ➙ Es gibt nur noch zwei Orte, an denen die Menschen tatsächlich alle gleich sind: den Trödelmarkt und die 90er-Party.
»Zehn Euro.«
»Drei.«
»Neun.«
»Fünf.«
»Acht.«
»Komm, machen wir sechs Euro. Hand drauf und fertig.«
Arne hält dem Trödler die Patsche hin und legt mit Hundeblick den Kopf schief. Der Mann schlägt ein. Arne gibt ihm drei Zwei-Euro-Stücke und nimmt den kleinen Karton entgegen. Noch mehr Zeug, das er gebrauchen kann. Vom ersten Cover lächelt ihn verwegen Lisa Stansfield an. Jedes Motiv in der Box erinnert ihn an die Zeit, als man noch Disketten in graue Rechner mit Windows 95 schob und die Menschen klobige Kompaktanlagen in sogenannten »Racks« aus schwarzem Holz aufbewahrten, die riesigen Boxen links und rechts an der Wohnzimmerwand hinter der Sofalandschaft versteckt.
Ein paar Meter neben dem Stand steht das Häuschen für die Einkaufswagen, denn der Trödelmarkt findet auf einem Baumarktparkplatz statt. Auf das alte Plexiglas der Einkaufswagenhäuschenwand ist ein Logo gesprüht. Der Schriftzug von Nirvana. Er wurde mit Schablone aufgetragen. Ein Stück Pappe mit dem ausgeschnittenen Schriftzug darin wurde dagegengehalten und die blaue Farbe auf den Karton gesprüht. Arne weiß das, denn er selbst hat vor siebzehn Jahren die Schablone gehalten. Dirk drückte auf den Knopf der Sprühflasche, mitten in der Nacht, hier, auf dem Baumarktparkplatz ihrer Stadt. Wie ernst sie das alles nahmen, noch in der Abiturzeit. Dass sie auf der richtigen Seite standen, weil sie das Richtige hörten. Dass Nirvana und die Bands des Grunge die Guten waren und die Pop-Industrie die Bösen. Niemals hätten Dirk und Arne auch nur einen Fuß auf den Grund des Mainstreams gesetzt. »I saw the sign«, sangen die dämlichen Mitschüler Ace Of Base nach, und Dirk wie Arne war völlig klar: Die werden mal gedankenlose Banker, die alles kaputt machen. Überhaupt, der Schwedenpop. Damals fiel darunter ja nicht Mando Diao, sondern Roxette. »Joyride«, ein bonbonbunter Versuch, so zu tun, als sei die Welt eine Kirmes. Und wie schrecklich waren erst die Charthits ohne Gitarren! Zynische deutsche Produzenten stellten eine zappelige Sängerin und einen hölzernen Rapper in viel zu großer Jacke nach vorne. Manchmal verkleideten sie ihn sogar als amerikanischen Oberfeldwebel. Was das für Abgründe waren! Dazu die erste und zweite Welle der Boybands … in jedem verdammten Song »baby girl« und »miss you!«. Dirk und Arne wussten damals ganz genau, wo das Feindesland begann, und sie nahmen die Grenze ernst. Sie hörten Rage Against The Machine, auf deren Cover sich ein vietnamesischer Mönch verbrannte, weil man in seinem Land den Buddhismus unterdrückte. Sie ließen sich von Biohazard die »Tales From The Hard Side« aus dem New Yorker Ghetto berichten. Sie verzweifelten gemeinsam mit Kurt Cobain über den tragischen Widerspruch, dass ein Lied, das sich sarkastisch
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