Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
Jens, ich könnte sie streichen. Er drückt die Taste für den Aufzug. An der zischenden Lautloskabine wehen Stimmen aus dem Hotelrestaurant gegenüber vorbei. Ich könnte vernünftig sein, denkt Jens, ein normaler, verheirateter Mensch. Einer, der sich nach zehn Stunden Messehallenklimaanlage, Unterzuckerung und Zungenkrampf vom vielen Reden einfach nur in dieses Restaurant setzt, bestellt, beim Warten auf sein Hühnchen mit Kerbel-Pesto Frau und Kind anruft und danach eine Runde heiß duscht, bevor er im weichen Bademantel aufs Bett sinkt. Allein. Mit einem Buch. Vielleicht mit dem Pornokanal. Einer, der ausgeschlafen zum Stand kommt, um auch ab 12 Uhr aufwärts noch zu begreifen, mit wem er eigentlich redet.
So denkt Jens, während er in den fünften Stock fährt und sein Zimmer aufschließt, doch dann steht er vor der gläsernen Sexkabine, und der Messesog hat ihn wieder.
Irre, wie verwirrt er gerade eben noch war.
Hühnchen mit Kerbel-Pesto … unglaublich.
Was sagt die Wissenschaft? ➙ »Messepartys und der notwendig darauf folgende Sex (diese Veranstaltungen leeren sich immer in Zwei-Personen-Schritten) sind nur der Höhepunkt eines insgesamt ersatzreligiösen Reflexes«, erklärt Prof. Dr. Tristan Tausendpfund vom Institut für tatsächliche Theologie (IftT) in Tutschfelden zu Herbolzheim. »Die gesamte Messe ist eine puritanische Form der Selbstaufopferung. Man ignoriert sämtliche Bedürfnisse und steht rund um die Uhr für den Dienst am Nächsten bereit, sei dieser nun ein Kunde, ein Besucher oder ein Kollege. Und sei dieser Dienst kommunikativer, merkantiler oder sexueller Natur.« So wie für Nonnen oder Mönche im Kloster das Morgengebet um zwei Uhr Priorität vor eigenen läppischen Bedürfnissen wie Schlaf, Durst oder Hunger hat, ist es hier die pausenlose Verschmelzung mit dem Gegenüber. »Verlässt ein Messemensch den Stand für 15 Minuten Pause und begegnet ihm dabei bereits nach zwei Minuten ein Bekannter, wird er die restlichen 13 Minuten diesem Gespräch opfern.« Die Messe, so Professor Tausendpfund schließlich, »heißt nicht umsonst so. Sie ist ein orgiastischer Dienst an der Gemeinschaft, bis hin zur vollständigen Zerrüttung. Die tiefgehende Erschöpfung jeder einzelnen Zelle wird nahezu masochistisch ausgekostet.«
Die Party dauert lang. Das muss so sein, denn sie sind Messemenschen. Ein Messemensch, der vor drei Uhr geht, könnte genauso gut Sweatshirts von Hello Kitty tragen oder offen zugeben, »Funkelperlenaugen« von Pur für den besten Rocksong deutscher Sprache zu halten.
Jens ertappt sich dabei, im schummrig bunten Licht auf seine Uhr zu schauen. Er weiß, dass die ganze Stadt feiert. In Hotels, alten Villen, Verlagsgebäuden, Firmenfilialen, Kneipen oder exotischen Bars wie dieser hier, wo die Kellnerinnen die bunten, im Dunkeln leuchtenden Strohhalme als Armbänder tragen, zu denen man sie nach Gebrauch zusammenstecken kann.
Die Heimat ist ausgeblendet, Wurfringe aus dem Schuppen, Familien, Gatten und Gattinnen … Jens hat jedes Glas ausgetrunken, das ihm hingehalten wurde, hellgrüne oder türkisblaue Cocktails mit Namen wie Blue Lady oder Swimming Pool . Er stellte sich dabei vor, Ninas Handgelenk zu nehmen und ab dem Uhrenarmband und den zwei frisch darum geschlungenen Strohhalmbändchen aufwärts mit der Zungenspitze bis zu ihrem Hals zu fahren. Er ist erregt bis zum Anschlag und zugleich todmüde.
Nur noch vier Stunden, bis wir wieder aufstehen müssen, denkt er in dem lauten Gewirr aus Soulmusik, Stimmengebrumm und Eiswürfelgeklimper und ist froh, dass Nina ihn nun an der Hand nimmt, ihn hinauszieht und draußen schon ein Großraumtaxi wartet, voll von Rückreisenden ins Hotel. Es sind genau acht, vier Frauen und vier Männer. Die Nacht zieht an den Fenstern vorbei, die vierspurige Straße und die Baumschatten rund um das Waldstadion, hinter dem das Sporthotel Lindner versteckt ist, in dessen Betten auch die Fußballprofis übernachten.
Als Jens mit Nina durch das Foyer des Hotels schlurft, kommt er: der Nachtknick.
Jeder Messeprofi kennt ihn. So müssen sich Pornodarsteller fühlen, wenn sie den ganzen Tag über ihre geschäftliche Buchhaltung gemacht und Interviews gegeben haben und nun zur blauen Stunde noch den Außendreh obendrauf setzen müssen. Der Unterschied ist, denkt Jens, ich werde nicht dafür bezahlt, was ich gleich tue.
Im Aufzug stehen Jens und Nina nebeneinander und schmunzeln sich verlegen an wie Teenager. Teenager mit bleichen
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