Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
Fassung. Wie kann er bloß ausdrücken, was er für Julia empfindet? Wie können Worte das überhaupt ausdrücken? Eigentlich müsste er einen Song schreiben.
»Justus?«
Eine Stimme vor der Badezimmertür. Die Stimme von Herrn Bissenkamp.
»Justus? Alles klar bei dir da drin?«
Justus überlegt einen Moment, ob er antworten soll. Woher weiß Herr Bissenkamp überhaupt, dass er hier oben auf dem Klo hockt?
»Alles klar!«, ruft er.
Justus horcht auf Schritte, aber der Lehrer bleibt. Leise atmet der christliche Pädagoge mit dem Faible für Anna Bolika vor der Badezimmertür.
»Ich glaube dir nicht. Mach bitte die Tür auf.«
Justus kann nicht fassen, was er da hört. Ist er jetzt zehn Jahre alt, oder was?
»Ich sitze auf dem Klo.«
Herr Bissenkamp atmet.
»Justus, ich will dir doch nur helfen. Ein Alkoholproblem löst man nur, wenn man darüber redet.«
So ist das, denkt Justus. Im Erdgeschoss kippt sich gerade ein Jäger, der das Kiefergelenk aushängen kann, illegal gebrannten Kräuterschnaps in den Rachen, aber Herr Bissenkamp steht vor dem Liebesbriefbad und hält Justus für einen schweren, heimlichen Trinker.
»Was machst du denn da drin, wenn du dich nicht übergibst?«, fragt Herr Bissenkamp.
Justus kann schlecht die Wahrheit sagen. Die Wahrheit ist zu intim. Und die andere wahrscheinliche Tätigkeit, die ein junger Mann alleine auf dem Klo ausführt, will er seinem Lehrer auch nicht unnötig in Erinnerung rufen.
Herr Bissenkamps Schuhe rascheln auf dem Teppich. Er seufzt: »Wir sehen uns morgen beim Frühstück. Hoffe ich jedenfalls.«
»Verlassen Sie sich drauf.«
Einen Stock tiefer bricht Johannes nach dem letzten Schluck Kräuterschnaps mit Nasenbluten zusammen.
Merke ➙ Die praktische Menschenkenntnis von Lehrern entspricht meistens ihrer praktischen Weltkenntnis. Besonders auf Klassenfahrten.
Das Buddenbrookhaus war schön gemacht, aber Justus dachte die ganze Zeit nur an seinen Liebesbrief. Jede Holzdiele, jede alte Kommode, das Pferdegetrappel, das sie vom Band abspielen, damit man den Eindruck bekommt, draußen befände sich die Hansewelt der Jahrhundertwende – alles rief: »Julia!«. Justus hat in den letzten Tagen und Nächten mehr Varianten des Briefes ausprobiert als Thomas Mann beim Verfassen seiner Romane.
»So langweilig?«, hat Herr Bissenkamp ihn gefragt, da er spürte, wie abwesend Justus war. Kopfschüttelnd ging er davon, da Justus nur wortlos wie ein Fisch vor ihm stand, aus seinen Gedanken gerissen. Justus fragt sich, wann Herr Bissenkamp zuletzt ein paar Dutzend Fassungen eines Textes ausprobiert hat, endlos durch Metaphernfelder wandernd.
Nach der Besichtigung steht die Gruppe vor dem alten Fachwerkgebäude. Frau Riether übernimmt kurz das Kommando, da sie mit ihrer Körpergröße alle überschauen und einen Befehl über die Köpfe schicken kann: »So! Zwei Stunden Zeit zur freien Verfügung. Um 14 Uhr treffen wir uns wieder hier!«
Kaum ist das »hier« verklungen, zerstäubt die Gruppe in die Gassen. Justus sieht Julias kleinen Kampfstiefeln auf dem Kopfsteinpflaster nach. Jan, Jörg und er bleiben zurück, ebenso wie das Trio Manuel, Johannes und David.
»Zwei Stunden Zeit zur freien Verfügung«, zitiert Manuel die Lehrerin Frau Riether, hält sich die Hand vor den Mund und stülpt mit der Zunge seine Wange auf. Das soll Herrn Bissenkamps Glied simulieren, das Frau Riether in ihrer Rolle als Anna Bolika seiner Einschätzung nach in den zwei Freistunden ausdauernd lutschen wird. David lacht dreckig. Er ist Michaels rechte Hand seit der siebten Klasse und der eigentlich gefährliche Mensch der Schule. Es ist grotesk, dass er den harmlosen Namen David trägt, wenn man seine Gewohnheiten bedenkt. Nicht nur, dass er zusammen mit Manuel boshaft über alle Menschen lästert; David ist auch noch ein Ultra, ein Fußballfundamentalist, cholerisch bis ins Mark. Hinter ihm beginnt Johannes gerade, kleine Fläschchen Jägermeister aus den Seitentaschen zu ziehen und sich drei davon gleichzeitig zwischen die Zähne zu stecken. Er korrigiert ihre Position, das Glas knarrt eklig auf dem weißen Schmelz. Als die Minipullen endlich sitzen, legt er den Kopf in den Nacken und wirbelt ihn wild von links nach rechts, als wolle er den Schnaps in sich hineinrütteln. Manuel und David lachen sich kaputt. Justus textet innerlich seinen Liebesbrief weiter.
»Lasst uns was fressen gehen«, sagt Manuel.
Zehn Minuten später hält die Gruppe gerade auf einen großen Imbiss zu, als
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