Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
kuschelt sich in das Sofa und hat ihre Beine auf seine Oberschenkel gelegt! Er hält die Arme in die Luft, als seien ihre Beine ansteckend. Das kann er auch nicht machen. Was erwartet sie jetzt? Er legt seine linke Hand neben seine Hüfte und seine rechte behutsam auf ihren Oberschenkel. Sie lächelt. Als wäre das ganz normal. Zaghaft beginnt er, ihr Bein zu streicheln. Einige Millimeter nur bewegt er die Hand. Dann mehr, da sie sich nicht beschwert. Sein Herz vergrößert sich so sehr, dass es den gesamten Torso bis zu den Ohren und den Nasenlöchern ausfüllt. Justus müsste sich eigentlich gerade mit jedem Herzschlag ein Stück nach außen wölben.
Wie soll das jetzt weitergehen?
Julia spricht, aber er hört sie nicht. In seinem Ohr rauscht es. Alles ist nur Herzschlag und Puls. Pumpendes Blut. In der Ferne singt Amy Winehouse.
Was sagt die Wissenschaft? ➙ »Selbst junge Männer, die an heilloser Hyperromantik leiden, wissen im restrationalen Teil ihres Geistes, wie sie ihre Chance tatsächlich ergreifen könnten«, sagt Felizia Fürstner vom Institut für fortgeschrittene Flirtanalyse (IffF) in Falkenfels. »Spätestens, wenn ihr Objekt der Begierde von selbst einen Schritt auf sie zumacht, ist diesem restrationalen Teil im jungen Mann klar, dass er nun nichts weiter tun müsste, als den Dingen ohne Druck ihren Lauf zu lassen. Leider aber ignoriert er diesen Gedanken.«
»He can only hold her so long …«
Amy Winehouse singt lauter. Jemand hat den Regler aufgedreht. Justus kennt das Album gut. Und er erkennt den Song. Es ist der letzte dieser Platte. O Gott. Hat er jetzt etwa neun Lieder lang wortlos an Julias Bein herumgerubbelt? Er blickt hinab auf seine Hand. Ihre Jeans ist heller geworden. Ihre Lippen sind halb geöffnet. Rote Löckchen kräuseln sich am Sofastoff. Sie ist eingedöst. Justus hat Julia in den Schlaf gerubbelt. Er nimmt die Hand von ihrem Hosenbein, und sie öffnet die Augen wie jemand, der wach wird, weil der laufende Fernseher auf einmal ausgeschaltet wurde.
Sie lächelt schon wieder.
Ihr unglaubliches, eine Welt versprechendes Lächeln.
Justus zieht den Brief aus der Hosentasche, schiebt vorsichtig ihre Beine von seinen, sieht ihr für eine halbe Sekunde in die Augen, drückt ihr den Umschlag in die Hand und flüchtet aus dem Gemeinschaftsraum.
Schon im Treppenhaus fragt er sich, was er da eben getan hat. Sie wird den Brief öffnen und ihren Freundinnen zeigen. Manuel wird es mitkriegen, den Sauftrichter loslassen und sich das Papier schnappen. Gerade jetzt werden seine Zeilen unten wahrscheinlich laut vor der ganzen Klasse vorgelesen.
Ich Idiot, ich Idiot, ich Idiot!, denkt Justus, öffnet die Zwischentür, die das Treppenhaus vom Flur trennt, und schlägt sie so fest zu, dass die Glasscheibe darin mit einem unglaublichen Knall in tausend Teile zerspringt.
Justus zuckt zusammen, als die hagelkornwinzigen Scherben sich auf dem Teppich verteilen. Eine Tür springt auf, und Herr Bissenkamp steht auf dem Flur. Er hat sein kariertes Hemd nur an zwei mittleren Knöpfen geschlossen und die Hose noch offen. In Sekunden überblickt er die Lage.
»Justus!«
»Herr Bissenkamp, das war ein Versehen. Ich …«
Der Lehrer dreht sich um, sagt etwas Beschwichtigendes zur Person im Zimmer, schließt die Tür und stapft auf Justus zu.
»Du hast ein Aggressionsproblem, mein Junge.«
Justus schüttelt den Kopf. Im Lübecker Krankenhaus musste ein Notarzt vor wenigen Stunden die gebrochene Nase eines Lübecker Klempners richten, die David ihm mit der Stirn zerdeppert hat … und Justus hat ein Aggressionsproblem.
»Wenn wir nach Hause kommen, möchte ich mit deinen Eltern reden«, sagt Herr Bissenkamp, doch Justus dreht sich auf dem Absatz um und rennt aus dem Haus in den verschachtelten Innenhof. Zwischen den großen Rollcontainern für Altpapier und Glas, die ein schmutziger Zaun umrandet, versteckt er sich. Er schämt sich. Er zittert. Auf dem Altglascontainer steht eine Flasche Wodka. Ein paar Schlucke sind noch drin. Er nimmt sie sich, schraubt sie auf und schüttet sich das brennende Zeug in den Hals. Wütend tritt er gegen den Altpapiercontainer. Von wegen Alkohol- und Aggressionsproblem! Die können ihn alle mal!
Er nimmt noch einen Schluck, das Licht der vom Bewegungssensor aktivierten Außenlaterne erleuchtet die klare Flüssigkeit in der Flasche vor seinem Gesicht. Als er sie wieder runternimmt, steht Julia vor ihm.
Sie hält den Brief in der Hand.
Sie wirkt nicht, als hätte
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