Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
Spielkonsole, zwei Pärchen knutschen keusch, und der Rest drückt sich in die Polster. Im Sofa schräg gegenüber fläzt sich Julia mit ihren Freundinnen. Sie streichelt einem der Mädchen zärtlich über den Rücken, wie die jungen Frauen untereinander das heute so tun. Es ist ein liebevolles, platonisches Streicheln. Kein lesbisches Streicheln. Kein »Ich bin im falschen Körper und muss ihn dringend in Begleitung von RTL2 wechseln«-Streicheln. Julia ist genau im richtigen Körper, dem optimalen Körper für Justus’ Geschmack. Ihre roten Locken fallen ihr über das linke Auge und ihre Füße stecken in schwarzen Doc Martens. Es sind unglaublich süße Füße, höchstens Schuhgröße 37. Justus mag den Kontrast zwischen diesen kleinen Füßen und der Kampfstiefelform der Schuhe. Julia trägt auch Militärhosen mit Taschen, aber nicht wie der Jäger Johannes. Julia würde niemals jagen. Sie hat sich Patches von Nirvana und Greenpeace auf die Taschen genäht. Die Jungs am Kicker lassen den Ball klackern. In der alten Stereoanlage, die der Besitzer der Appartementanlage wahrscheinlich 1992 hier reingestellt hat, läuft Seeed.
»Alles klar bei euch?«, fragt Herr Bissenkamp und seine Nase beginnt augenblicklich zu schnüffeln. Das Kräuterschnapsaroma liegt noch in der Luft. Ein paar Bierflaschen stehen auf den Tischen und dem Rand des Kickers. Gegen ein Bierchen hat Herr Bissenkamp nichts einzuwenden, das muss er in der zehnten Klasse durchgehen lassen. Aber er hat was gegen Exzesse.
»Das Leben verlangt Maß und Mitte«, sagt er immer im Religionsunterricht. »Jede große Weltreligion, so verschieden sie auch alle sein mögen, hält Selbstbeherrschung für entscheidend. Jede einzelne! Glaubt ihr, das ist ein Zufall? Das lasst euch mal durch den Kopf gehen.«
Der Witterung folgend schleicht Herr Bissenkamp durch den Raum. Sein prüfender Blick landet auf Justus und bleibt dort ein paar Momente zu lange hängen. Als sei Justus es gewesen, der sich statt Maß und Mitte einen halben Liter Jägerfusel durch den Kopf gehen ließ. Manuel kichert. Johannes stößt Kräuterschnaps auf, aber Herr Bissenkamp ist zu weit weg, um es zu riechen. Bei Justus kommt die Fahne hingegen an, gemischt mit dem Duft von Magensäure, in der Gänsefleisch und Bratwurststückchen schwimmen.
Frau Riether taucht in der Tür auf. Groß, blond und tatsächlich so sportlich wie keine zweite Sportlehrerin im Land. Privat betreibt sie Triathlon. Ihre Gesichtszüge sind scharf geschnitten. Manuel nennt sie aus Spaß Anna Bolika, unsere russische Athletin.
Herr Bissenkamp dreht sich zu ihr um und hört auf zu schnüffeln. Jetzt will er nicht mehr wie ein kleiner Stasi-Ermittler dastehen. Er klopft an den Türrahmen und sagt: »Gut. Feiert noch schön, in Maßen. Denkt dran, morgen ist Abfahrt direkt nach dem Frühstück!«
Alle nicken, grüßen, grummeln.
Kaum ist Herr Bissenkamp mit Frau Riether verschwunden, zieht Johannes die Flasche wieder hervor. Manuel macht eine Hüftbewegung, die darstellen soll, dass Herr Bissenkamp Frau Riether nun von hinten im Doggystyle vögeln geht. Dabei legt er eine Hand in den Nacken und die andere auf Frau Riethers gedachten Rücken. »O Anna«, stöhnt er. »O Anna Bolika!«
Jan und Jörg lachen, wie sie häufig über Manuels Scherze lachen, weil sie sich im Leben eben so wenige Gedanken machen. Justus vermutet, dass sie ganz glücklich sind. Er beobachtet Julia. Sie nimmt sich ein Bier und legt ihre Beine ganz entspannt über die ihrer Freundin. Die Freundin streichelt nun Julias Oberschenkel, während Julia weiter ihren Rücken krault. Justus schluckt. Er muss unbedingt diesen Brief weiterschreiben.
Merke ➙ Zu keinem anderen Zeitpunkt in der menschlichen Entwicklung klafft der Reifegrad zwischen Männern und Frauen so weit auseinander wie in der zehnten Klasse. Während die Jungs geistig immer noch in der Frühpubertät stecken, haben die Frauen längst einen weiten Sprung nach vorne gemacht. Im Grunde lässt sich sagen, dass bei einer Klassenfahrt lauter zwanzigjährige Frauen mit einer Horde vierzehnjähriger unterwegs sind.
Johannes arbeitet sich im Gemeinschaftsraum unter den Anfeuerungen der Mitschüler weiter an der riesigen Kräuterschnapsflasche ab, aber Justus hat sich längst ins Bad der ersten Etage zurückgezogen. Körperlich nüchtern, aber trunken vor Liebe sitzt er auf dem geschlossenen Klodeckel, die Füße in einem blauen Flauschvorleger, und wägt die Worte ab. Es ist die 27.
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