Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
vortragen. Manuel ist das totale Gegenteil von Justus. Klassensprecher und Leithammel, der unangefochtene Chef der Zwangsgemeinschaft. Groß gewachsen und sportlich, mit einem Blick so blau wie das Hallenbad, in dem er schon jetzt Bundesligawasserball spielt. Man munkelt, er könne es eines Tages in die Nationalmannschaft schaffen. Manuel würde niemals Liebesbriefe schreiben. Er setzt sich einfach neben ein Mädchen, gibt ein paar belanglose Sätze von sich, macht irgendwas Unerklärliches mit den Augen und hat seine Beute kurz darauf in der Tasche.
»Justus schreibt wahrscheinlich heimlich Gedichte!«, ruft Manuel durch den Bus, und ein paar der Jungs lachen. Ein paar der Mädchen auch, es sind die mit der vielen Schminke und der nuttenhaften Kleidung, mit denen Justus nichts zu tun haben will. Im Radio des Busses plappert ein Sprecher die Verkehrsnachrichten daher. Noch dreißig Kilometer bis Lübeck. In den Sitzen gegenüber hängen Jan und Jörg, Justus’ einzige Freunde. Sie würden sich wahrscheinlich sogar auf die Schlampenschminkemädchen einlassen. Nicht, weil sie zu ihnen passen, sondern weil sie sich im Leben wenig Gedanken machen. Sie trinken heimlich Bier aus Thermosflaschen. »Na, Jungs?«, versucht Manuel sie, breitbeinig im Gang stehend, aufs Korn zu nehmen: »Ihr wärt doch auch lieber nach Hamburg gefahren, um auf der Reeperbahn endlich mal einen wegzustecken, oder?«
Er haut Jörg auf die Schulter. Der lässt es geschehen. »Na ja«, krakeelt Manuel, »müsst ihr halt alle mit dem Lübecker Strich vorliebnehmen. Der soll ja auch weltberühmt sein!«
Justus ist heilfroh, dass sie nicht nach Hamburg fahren wie die 10a und die 10c. Er will St. Pauli gar nicht sehen. Er will in keinen Puff. Er will Julia. In der zweiten Sitzreihe kräuselt sich ein rotes Haar über die Lehne, nur ein einziges, kein Mensch würde es mit bloßem Auge erkennen. Nur einer, der verliebt ist.
Merke ➙ Auf einer Klassenfahrt hat ein junger Mann entweder dicke Eier oder ein übervolles Herz. Wem beides davon fehlt, der hat seine Seele bereits vollständig an den Alkohol verloren.
»Auf Ex! Auf Ex! Auf Ex!«
Im Gemeinschaftsraum stehen die Mitschüler um Johannes herum und feuern die Trinkmaschine an. So nennt ihn jeder in der Klasse. Die Trinkmaschine. Johannes kann Flüssigkeiten in sich hineinlaufen lassen, ohne zu schlucken. Er hat eine Technik entwickelt, seinen mächtigen Quadratkiefer auszuhängen, wie eine Schlange, die ganze Schafe verschlingt. Was Johannes da gerade auf Ex trinkt, ist nicht etwa ein Bier, sondern eine riesige Flasche Kräuterschnaps, den einer seiner Nachbarn selbst destilliert hat. Johannes lebt in der Bauernschaft. Sein Schulweg führt ihn seit Urzeiten mehrere Kilometer quer durch neblige Wälder. Man munkelt, er lege diesen finsteren Pfad mit kleinen Kräuterschnapsfläschchen im Gepäck zurück, bereits am frühen Morgen. Wo Johannes geht und steht, da klimpert es. Johannes riecht nach Wermut und Kümmel. Johannes trägt Tarnfleckhosen mit Seitentaschen. Johannes jagt. Johannes dreht den Gänsen auf Vaters Hof persönlich die Hälse um. Trotzdem sieht der Klassenlehrer, Herr Bissenkamp, ihn mit weniger Misstrauen an als Justus, was daran liegen mag, dass in der Bauernschaft überall Kreuze hängen. Justus hingegen hakt im Religionsunterricht gerne nach, was Gott sich dabei denkt, ständig Völkermorde zuzulassen, und warum er den Gentechnikern und Atomphysikern keinen Riegel vorschiebt. Das mag Herr Bissenkamp gar nicht. Auf Gott lässt er nichts kommen. Genauso wenig wie auf Thomas Mann. Deswegen geht die Fahrt nach Lübeck. »Gegen Goethe ist Thomas Mann nur ein Journalist«, hat Justus einmal im Unterricht gesagt, es rutschte ihm einfach heraus, und Herr Bissenkamp wurde knallrot vor Zorn. Jörg und Jan warnen ihn seit Monaten: »Der Bissenkamp hat dich auf dem Kieker. Der denkt, du bist ein kleiner Psycho.«
Herr Bissenkamp begleitet diese Fahrt zusammen mit Frau Riether, der Sportlehrerin. Das lenkt den eifrigen Lehrer wenigstens genug ab, um die Klasse nicht rund um die Uhr zu bespitzeln. Frau Riether ist einen Kopf größer als Herr Bissenkamp. Man munkelt, der Satz »Er sieht zu ihr auf« sei bei den beiden nicht nur körperlich gemeint.
»Achtung! Der Bissenkamp kommt!«, ruft einer in der Tür. Johannes setzt die kolossale Kräuterschnapsflasche ab und versteckt sie unter einem Sofapolster. Die anderen verteilen sich im Raum. Vier springen an den Kicker, vier an die
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