Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
durch die Welt schleichen, sondern dass sie Freude an ihrem Leben haben, stark und selbstbewusst sind – und ihn trotzdem nicht vergessen.
Diese Angst, den Verstorbenen zu vergessen, ihn nicht richtig zu würdigen, wenn man Freude hat an seinem Leben, prägt das Verhalten vieler Menschen nach einem Verlust. Sie ist häufig eingebettet in die Vorstellung, dass man nicht »tief genug« trauert, wenn man lacht, aktiv ist, Freude an bestimmten Dingen hat oder statt der Trauerkleidung bunte Sachen trägt. Ein schräger Blick beim Dorfbäcker reicht aus, schon setzt sich im Kopf des Betroffenen eine ungute Gleichung fest: Ich bin nicht mit allen Anzeichen tiefer Traurigkeit durch die Welt gegangen, ich trauere nicht richtig, ich habe meinen Partner nicht richtig geliebt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nochmals an die Worte des norwegischen Ministerpräsidenten vor Zehntausenden Menschen: »Wir ehren die Toten, indem wir uns am Leben freuen.« Trauer ist ein heilsamer und wichtiger Prozess nach dem Verlust eines geliebten Menschen. Und er ist immer auch ein sehr individueller Prozess. Deswegen sollte man sich nicht an Normen oder Erwartungen anderer orientieren (die oft genug nur eine Projektion sind), sondern bei seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen bleiben.
Pathologisches Trauern
Neben der heilsamen Trauerarbeit gibt es auch eine pathologische Trauer, die häufig an dem Grundgedanken orientiert ist, Verrat am Verstorbenen zu begehen, wenn man nach dessen Tod eine neue Perspektive für sein eigenes Leben aufbaut, statt dem Vergangenen nachzutrauern. Diese Menschen sind oft auch nach zwei, drei oder vier Jahren nur auf das Verlorene fixiert und nicht in der Lage, am normalen Leben teilzunehmen. Einige verbringen täglich Stunden auf dem Friedhof, haben keine sozialen Kontakte mehr, vernachlässigen berufliche und alltägliche Aufgaben. Wenn Patienten eine solch pathologische Trauer entwickeln, erkläre ich ihnen gerne meine Sichtweise auf den Tod, die durch meine Reisen in asiatische Länder geprägt wurde: »Der Mensch besteht aus dem Körper und der Seele. Der Körper ist Materie, die Seele ist Energie. Wenn ein Mensch stirbt, legt die Seele den Körper ab wie ein altes Kleidungsstück, das man nicht mehr gebrauchen kann. Die Materie vergeht, aber die Seele bleibt bestehen. Aus der Physik wissen wir, dass keine Energie in einem geschlossenen System verloren gehen kann. Das ist ein physikalisches Grundgesetz, das Einstein und andere Physiker beschrieben haben. Energie kann umgewandelt werden, aber sie kann nicht verloren gehen. Die Seele des Verstorbenen ist immer da, sie ist um Sie herum. Wenn Sie es zulassen, können Sie es spüren, manchmal deutlicher, manchmal weniger deutlich. Der Körper bedeutet immer eine Einschränkung für die Seele, nach dem Verlassen der ›irdischen Hülle‹ kann sie frei und ungebunden sein. Wenn wir immer weiter darum trauern, dass die Seele nicht in ihrem Körper geblieben ist, behindern wir sie. Die Seele des Verstorbenen kann nur dann in einem positiven Kontakt mit uns stehen, wenn wir sie loslassen, wenn sie frei ist und nicht von uns umklammert wird.«
Für Millionen von Menschen im asiatischen Raum sind dies ganz naheliegende und alltägliche Gedanken. Damit haben sie es vermutlich leichter mit dem Tod umzugehen, als wir mit unserer christlich-westlichen Anschauung; auch ihr Verhältnis zu den Verstorbenen ist viel unverkrampfter. Als ich in Thailand bei einer Musikveranstaltung einmal fragte, warum die ersten beiden Reihen frei gehalten würden, antwortete man mir, die seien für die Toten reserviert. Ihre Seelen seien immer dabei.
Um so denken zu können, muss man nicht gleich seine gesamte kulturelle und religiöse Orientierung verändern und Buddhist werden. Man kann diese Sichtweise auch gut ergänzen mit den Weisheiten des König Salomo aus dem alten Testament. Der König beschreibt die Vergänglichkeit auf unserer Welt mit den Worten: »Alles hat seine Zeit.« Ich habe das bereits an anderer Stelle erwähnt, man kann es sich aber gar nicht häufig genug vor Augen führen. Aus Sicht eines Trauernden heißt das: Es gab eine Zeit des Zusammenlebens mit dem geliebten Menschen, nun gibt es eine Zeit des Schmerzes und des Trauerns, dann wird eine Zeit des Loslassens folgen und eine neue Zeit, ohne ihn körperlich bei sich zu haben.
Um ein Bild vom Anfang des Buches wieder aufzugreifen: Alles bleibt, nur ganz anders. Und das heißt nicht notwendigerweise, dass dieses
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