Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
auch unser Körper und unsere Seele müssen einen schwierigen Umstellungs- und Anpassungsprozess durchlaufen. Dieser Prozess ist nicht einfach, vor allem aber braucht er Zeit.
Trauernde fragen mich immer wieder, wie sie in ihrer schweren Situation mit anderen Menschen umgehen sollen – mit Freunden, Nachbarn, Angehörigen. Sie finden es schwer, soziale Kontakte aufrechtzuerhalten, weil sie glauben, keiner verstehe, wie es ihnen geht. Sie können Hilfsangebote oft nicht annehmen, wollen niemandem zur Last fallen. Oder fühlen sich nicht erst genommen, wenn Bekannte selten nach dem Verstorbenen fragen: »Wie kann es sein, dass meine Freunde so schnell wieder zur Tagesordnung übergehen können?« Dahinter steckt in den meisten Fällen jedoch etwas ganz anderes. Nämlich die Unsicherheit des Umfelds, wie mit dem Trauernden umzugehen ist. »Reiße ich Wunden auf, wenn ich nachfrage?« Hinzu kommt die Scheu vieler Menschen, über Tod, Sterben und Trauer zu reden. Die Angst, nicht die richtigen Worte zu finden, führt bei Außenstehenden häufig dazu, den Trauernden aus dem Weg zu gehen.
Für den Umgang mit dem Thema Tod und Verlust gibt es kein Patentrezept – jeder muss den Weg für sich finden, der am stimmigsten ist. Das Wichtigste ist, auf sich selbst zu hören und auf das, was in einem vorgeht. Das gilt für Trauernde, die in ihrem Schmerz zu versinken drohen, ebenso wie für Freunde, die nicht wissen, wie sie mit den Betroffenen umgehen sollen.
Im Laufe der Jahre habe ich aus unzähligen Gesprächen mit Hinterbliebenen einige Erkenntnisse gewonnen, die ich Ihnen dennoch gerne weitergeben möchte. Vielleicht können Sie den einen oder anderen Hinweis bei der Suche nach Ihrem persönlichen Weg der Trauerverarbeitung nutzen.
Erzählen Sie den Personen, die Ihnen wichtig sind, wie es Ihnen geht. Lassen Sie Freunde oder Verwandte teilhaben an Ihrem Kummer, und haben Sie keine Scheu, Ihre Tränen zu zeigen. Sie sind ein trauernder Mensch und befinden sich in einer schwierigen Lebenssituation – wozu hat man denn Freunde, wenn nicht dafür, dass sie einem nun beistehen.
Seien Sie in diesen Begegnungen ehrlich zu sich selbst und zu den anderen. Sie sind verletzlich in dieser Zeit und haben möglicherweise Angst, durch negative, ablehnende Reaktionen noch mehr verletzt zu werden. Diese Angst sollte nicht dazu führen, dass Sie sich zurückziehen. Geben Sie Ihrer Umwelt die Chance, Ihnen mit Mitgefühl und Anteilnahme zu begegnen. Sie werden feststellen, dass diese Anteilnahme oft von Menschen kommt, von denen Sie dies gar nicht erwartet hätten. Manchmal werden so aus »Bekanntschaften aus der zweiten Reihe« enge Freundschaften, die tragen, gerade weil sie in einer schweren Lebenssituation vertieft wurden. In jedem Fall aber wird es Ihnen guttun, wenn Sie Ihren Schmerz gezeigt und darüber geredet haben. Je häufiger Sie das tun, umso leichter wird Ihnen das fallen, auch wenn Sie das nicht gleich bemerken werden. Es ist wie bei einer unendlich schweren Last, die in Zehn-Gramm-Schritten verringert wird. Jeder einzelne Schritt ist wichtig, auch wenn es dauern wird, bis eine spürbare Erleichterung eintritt. Wenn Sie Ihren Schmerz nur für sich behalten und sich von Ihrer Umgebung isolieren, wird die ohnehin schwere Last noch drückender. Denn dann kommt zu Ihrer Trauer noch das Gefühl dazu, von aller Welt verlassen zu sein.
Oft sind Trauernde auch unsicher, wie sie nach einer gewissen Zeit des sinnvollen Rückzugs mit alten Gewohnheiten umgehen sollen – im Chor singen, zum Sport gehen, zum Stammtisch, mit einer Gruppe zum Wandern. Eine Frau, die ihren Mann bei einem Autounfall verlor, sagte einmal zu mir: »Es bedeutet eine große Kraftanstrengung und Überwindung für mich, wieder in den Kirchenchor zu gehen. Ich breche dort immer wieder in Tränen aus, aber es tut gut, es hilft!« Menschen, die den gegenteiligen Weg einschlagen, also mit liebgewordenen Gewohnheiten brechen, glauben oft, sie hätten kein Recht auf solche »Ablenkungen«. Sie machen durch ihre Haltung deutlich, dass sie es sich im Grunde nicht zugestehen, jemals wieder glücklich zu sein im Leben, wieder lachen und fröhlich sein zu können, neue Ziele und Wünsche haben zu dürfen. Ich frage die Betroffenen in solchen Momenten immer: »Was glauben Sie, wie der Verstorbene Sie gerne sehen würde? Was würde er Ihnen für Ihr Leben wünschen?« Die meisten antworten dann, dass der Verstorbene sicher nicht wolle, dass sie vergrämt und depressiv
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