Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
bei der Weimarer Republik und begann dann wieder von vorne bei den alten Griechen.
Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel von Borken. Nach dem Unglück wurde das gesamte Grubengelände von einem Künstler zu einer Gedenkstätte umgestaltet. In einem Teil des Geländes sind in einer Gesteinsschichtenfolge aus Sandstein bildhauerisch gestaltete Motive aus dem Bergwerksalltag zu sehen. Und die Stelle, an der die Bergleute einst in die Grube einfuhren, umfasst heute ein zwölfteiliger Bronzering, der die Lebensuhr symbolisiert. Umgeben ist er von einem Kreis aus zwölf Bergahornbäumen. In den Ring sind nicht nur die Namen aller im Borkener Braunkohlerevier verunglückten Bergleute eingraviert, sondern auch der Spruch: »Die Toten sind Teil unseres Lebens, so wie jeder Teil der Natur dem Leben dient. Vergänglichkeit ist unser aller irdisches Los, und doch ist das Leben nicht mit dem Tode des Einzelnen beendet.«
So schwer die ersten Schritte, das »In-Besitz-Nehmen« der Gedenkstätte für die Betroffenen war, so wichtig und wertvoll wurde sie im Laufe der Jahre für viele von ihnen. Sie konnten, wann immer sie das Bedürfnis dazu hatten, dort hingehen und sich Zeit lassen, des Unglücks und des Verlustes des eigenen Angehörigen wie auch der vielen anderen zu gedenken.
Einer der geretteten Bergleute, der nach dem Unglück eine neue Arbeit in einer anderen Stadt angenommen hatte, berichtete mir, dass er jedes Mal, wenn er nach Borken komme, zur Gedenkstätte fahre. Er sei vorher zwar immer ziemlich angespannt, aber dann setze er sich dort auf eine Bank und versuche, sich an alle Namen seiner Kumpel zu erinnern, die damals umgekommen sind. »Und wenn mir von den 51 einige fehlen, dann gehe ich zu dem Ring und suche so lange, bis ich alle zusammen habe. Und dann fällt mir zu jedem eine Geschichte ein. Es ist zwar furchtbar traurig, was passiert ist, und mir kommen auch immer ein paar Tränen, aber meistens denke ich nur an die schönen Erlebnisse mit ihnen zurück. Danach bin ich wieder ganz ruhig, wenn ich nach Hause fahre, und alles ist in Ordnung.«
An der Aussage dieses Bergmanns kann man ermessen, was erfolgreiche Traumabewältigung bedeutet und welche Rolle dabei eine Gedenkstätte spielt. Wenn man sich der Erinnerung stellen kann, ohne emotional überflutet zu werden, wenn man nicht mehr weglaufen muss vor dem, was mit dem Unglück zusammenhängt, sondern sogar in der Lage ist, Erinnerungen bewusst zurückzurufen. Wenn man dabei zwar Traurigkeit erlebt, aber sein jetziges Leben ohne Einschränkungen weiterführen kann, dann ist ein Trauma bewältigt und in das Leben integriert. Um dieses Ziel erreichen zu können, brauchen wir Erinnerungsorte. Sie sind für viele Betroffene eine enorm wichtige Hilfe auf dem Weg zur Bewältigung. Wenn sie fehlen – wie im oben genannten Beispiel von Herborn –, erleiden die Hinterbliebenen einen zweiten Verlust.
Ähnlich positive Erfahrungen wie in Borken habe ich beim Thema »Erinnerungsorte« auch im Zusammenhang mit der ICE -Katastrophe von Eschede gemacht. Viele Angehörige vermieden zunächst alles, was mit diesem Ereignis zu tun hatte, aus Angst, den Schmerz der Erinnerung nicht aushalten zu können. Man betrat keinen Bahnhof mehr, wollte nie wieder mit dem Zug fahren und konnte sich nicht vorstellen, den Ort in Eschede, an dem eine Gedenkstätte errichtet wurde, jemals zu besuchen. Nach vielen Gesprächen, in denen wir mit einer Gruppe Angehöriger lange über die traumatischen Erlebnisse und die Trauer der Einzelnen gesprochen hatten, erkannten die Betroffenen, dass eine Konfrontation mit all diesen Situationen ein wichtiger Schritt zur Bewältigung ist. Das Fahren mit der Bahn und der Besuch der Unglücks- beziehungsweise Gedenkstätte wurden dabei als die schwierigsten Aufgaben benannt. In den darauf folgenden Gesprächsrunden gingen wir die Rituale durch, die die Gruppe vor Ort durchführen wollte: die gemeinsame Zugfahrt, das Niederlegen von Blumen und Kränzen mit persönlichen Botschaften, das Singen von Liedern und so weiter. Als wichtigstes Ritual werteten die Angehörigen das Schreiben eines Briefs an ihren Verstorbenen, der an der Gedenkstätte an einen Ballon gebunden in den Himmel aufsteigen sollte.
Bei der Durchführung dieses Projekts mussten die Teilnehmer zahlreiche psychische Hürden überwinden. Vieles war extrem angstbesetzt, die Anspannung groß, es flossen viele Tränen. Eine Frau etwa nahm auf einem Sitz Platz, der die gleiche Nummer trug
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