Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
wie jener, den sie damals für ihre Tochter reserviert hatte. Auch die Nummer des Waggons war die gleiche. Es war für mich körperlich spürbar, wie schwer diese Arbeit für die Betroffenen war, wie sie kämpften, ihre Tendenz zu besiegen, einfach nur wegzulaufen oder die Augen vor der qualvollen Erinnerung und der schmerzhaften Realität zu schließen. Auch mir kamen die Tränen, wenn ich sah, wie sie unter Aufbringung aller Kräfte ein Gedicht rezitierten, ins Stocken gerieten und nicht weitersprechen konnten. Besonders der Moment, als die Ballons in den Himmel stiegen, war sehr emotional. Gleichzeitig war es sehr beeindruckend zu erleben, wie sich die Anspannung der Betroffenen im Laufe des mehrstündigen Aufenthalts an der Gedenkstätte mehr und mehr auflöste und wie sie mit diesem Ort innerlich Frieden schlossen.
Die in einer solchen Situation entstehenden Gefühle sind unglaublich dicht und vielfältig. Die Tränen, die dort flossen, waren Tränen der Trauer und Tränen des Glücks. Trauer über den Verlust des geliebten Menschen und Glück über den wiedergewonnenen Kontakt zu den Überlebenskräften, und die gestärkte Hoffnung, dass das Leben weitergehen kann. In späteren Auswertungen der gemeinsamen Fahrt nach Eschede wurde deutlich, dass dieser Schritt für viele ein Meilenstein in der Bewältigung der Katastrophe gewesen war. Die Erinnerung an den Unglücksort war nun nicht mehr ausschließlich geprägt von den schrecklichen Bildern der ineinander verkeilten Eisenbahnwaggons; es waren Gegenbilder entstanden, deren Bedeutung am besten mit den Worten einiger Teilnehmer beschrieben ist: »Der Moment, als der Ballon in den Himmel stieg, war eine Kostbarkeit!« Eine Frau sagte: »Der Tag an der Gedenkstätte und die Feier danach waren traurig und beglückend.« Und eine dritte Betroffene reflektierte, dass sie es als Glück empfinde, wieder in der Gegenwart angekommen zu sein – und aus dem Hier und Jetzt in die Vergangenheit zurückzublicken.
Wenn man erlebt hat, dass es möglich ist, seine generelle Vermeidungshaltung zu überwinden und sich der Erinnerung zu stellen, kann aus der Angst vor der Erinnerung das Glück der Erinnerung werden. Nicht nur Hinterbliebene, sondern auch Überlebende nutzen dafür immer wieder Gedenkstätten; nicht nur bei offiziellen Anlässen wie den Jahrestagen der Katastrophe, sondern auch zwischendurch, ganz privat, wenn sie das Bedürfnis dazu verspüren. Wie bei jenem erwähnten Bergmann kostet das zwar zunächst eine gewisse Überwindung, man verspürt eine innere Unruhe und ist angespannt. Aber danach erfahren die Betroffenen oftmals eine tiefe Ruhe, eine innere Stärke. Weil sie einen Ort haben, an dem der Toten gedacht werden kann, an dem man sich der Erinnerung stellen kann. Das hilft, das schwere Ereignis in sein Leben zu integrieren. Und vor allem stärkt es das eigene Selbst, weil der Betroffene feststellt, dass er bestehen kann. Selbst am Ort des Unglücks.
Mutmacher 15
Erinnerungsorte sind für die Bewältigung eines Schicksalsschlages sehr wichtig. Im privaten Kreis kann das ein Foto mit einer Kerze, ein Kreuz an der Unglücksstelle oder Ähnliches sein. Wenn Sie – oder Menschen in Ihrem Umfeld – von einer Großkatastrophe getroffen sein sollten, setzen Sie sich dafür ein, dass die Erinnerung an das Ereignis und das Gedenken an die Toten in würdiger und angemessener Weise aufrechterhalten wird. In Duisburg hat sich zum Beispiel nach der Love-Parade-Katastrophe eine entsprechende Bürgerinitiative zusammengefunden. Das Verfolgen dieses gemeinsamen Ziels zeigt den Betroffenen, dass sie nicht allein gelassen werden.
16. Der Tod gehört zum Leben
Wir alle sind irgendwann in unserem Leben mit dem schmerzvollen Thema Tod konfrontiert. Er gehört zum Kreislauf des Lebens dazu. Dennoch gibt es kaum ein Thema, das in der Gesellschaft und für den Einzelnen mit einem so großen Tabu belegt ist. Wir scheuen die Konfrontation, weil diese immer auch eine Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit bedeutet.
Wenn ein geliebter Mensch stirbt, wehrt sich alles in uns gegen diese Tatsache. Es dauert, bis wir die Realität verstehen und anerkennen können: Nämlich dass wir diesen Menschen nie wieder umarmen, nie wieder mit ihm reden, lachen oder weinen können. Der Schmerz sitzt unendlich tief, die Einschnitte, die der Tod im eigenen Leben verursacht, können gewaltig sein. Nicht nur der Alltag ändert sich, weil man ihn nun ohne den geliebten Menschen bewältigen muss,
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