Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Anzahl an negativen Lebensereignissen hatten, wiesen deutlich schlechtere Werte auf. Offensichtlich stärkt also eine mittlere Häufigkeit von negativen Ereignissen unsere Widerstandsfähigkeit, die sogenannte Resilienz.
Vermutlich gibt es nicht viele Menschen, die so enorme Widerstandskräfte haben wie die Witwe des Bergmannes, aber etwas davon steckt in jedem von uns. Der Volksmund weiß das: »Was uns nicht umbringt, macht uns härter!«
Dieses Prinzip nennt die amerikanische Psychologin Suzanne Kobasa »Hardiness«, »Widerstandsfähigkeit«. Sie konnte nachweisen, dass sich körperliche Erkrankungen nicht zwangsläufig als Folge von kritischen Lebensereignissen und schweren Schicksalsschlägen einstellen, sondern als Folge der inneren Haltung und Einstellung zu diesen Belastungen. Nach Kobasa gründet sich diese Widerstandsfähigkeit auf drei Elemente:
1. Engagement und Verantwortungsgefühl : sich aktiv einbringen, Verantwortung übernehmen für Personen und Sachen und dies auch zeigen.
2. Das Gefühl von Kontrolle : dieses entsteht aus dem Glauben an die Selbstwirksamkeit heraus, den Verlauf der Dinge zumindest mit beeinflussen zu können.
3. Herausforderung: Aufgaben, die auf einen zukommen, in erster Linie nicht als Störung oder unüberwindbare Hindernisse auffassen, sondern als Herausforderung, die man akzeptierend oder sogar gerne annimmt.
All diese Eigenschaften zeigte besagte Witwe aus Borken. Trotz des neuerlichen schweren Schicksalsschlags brachte sie den Mut und die Kraft auf, ihre neue Situation mit Engagement und Verantwortungsgefühl und dem Glauben, etwas bewirken zu können, anzunehmen. Für mich war das äußerst bewundernswert. Denn natürlich gibt es eine Grenze dessen, was der Mensch an negativen Lebensereignissen verkraften kann. Wo diese Grenze verläuft, scheint individuell sehr unterschiedlich zu sein. In der Fachliteratur gelten Katastrophenopfer, die schon frühere Traumatisierungen verarbeiten mussten, als besonders gefährdet. Auch nach meinen Beobachtungen haben mehrfach Traumatisierte oft große Probleme, an die Bearbeitung eines erneuten Schicksalsschlags heranzugehen. Sie kreisten immer wieder um die Frage: »Warum ich? Habe ich nicht schon genug gelitten?« Für viele von ihnen war diese neue Hürde diejenige, an der sie endgültig scheitern würden. Gleichzeitig gibt es Gegenbeispiele, die zeigen, zu welchen psychischen und physischen Energieleistungen Menschen fähig sind, um sich auch aus einem erneuten Tief wieder herauszuarbeiten.
Ein weiteres beeindruckendes Beispiel dafür sei hier noch erwähnt: Einer der Geretteten des Grubenunglücks von Borken brauchte lange Zeit, bis er sich mit Hilfe seiner Familie und Freunde sowie der psychotherapeutischen Betreuung in der Gruppe wieder stabilisiert hatte. Als er gerade wieder das Gefühl hatte, nun laufe »endlich alles rund« in seinem Leben, verunglückte er mit dem Motorrad. Ein Autofahrer hatte ihm die Vorfahrt genommen. Im Krankenhaus musste sein rechtes Bein amputiert werden. In den Wochen nach dem Unfall war er schwer depressiv und zeigte kaum noch Widerstandskräfte oder Hoffnung, je wieder aus diesem Tief herauskommen zu können. Seine Gedanken drehten sich permanent um die Frage, warum es ausgerechnet ihn wieder getroffen habe und er nun als »Krüppel« nicht einmal mehr in der Lage sei, seine neue, leichtere Arbeit über Tage ausführen zu können.
Im Verlauf mehrerer Therapiesitzungen konnte ich seinen Blick dafür öffnen, dass er schon bei der Bewältigung des Grubenunglücks bewiesen hatte, dass er sein Leben trotz schwerer Erschütterungen in den Griff bekommen und steuern kann. Das Gefühl, das geschafft zu haben, gab ihm schrittweise die Kraft zurück, auch die neue Krise anzupacken. Er absolvierte die Reha, begann intensiv in einem Fitnessstudio zu trainieren und schloss dort neue Freundschaften. Er wurde verrentet und widmete sich einem außergewöhnlichen neuen Hobby – er baute Lebendmausefallen, mit denen er Nachbarn und Freunde belieferte. Am Ende hatte er es geschafft, seine körperlichen Einschränkungen zu akzeptieren, sein Leben entsprechend neu auszurichten und wieder einen Sinn und Freude darin zu finden.
Damit hatte er etwas erreicht, das Antonovsky ein »hohes Kohärenzgefühl« nennt. Ein hohes Kohärenzerleben beschreibt eine generelle geistig-seelische Einstellung, die eine Art Garantie darstellt für psychisches Wohlbefinden und Ausgeglichenheit auch in oder nach schwierigen
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