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Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Pieper
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frei entscheiden, was sie tun wolle.
    Die ersten Stunden der Therapie waren geprägt von starkem Misstrauen ihrerseits; so verlangte sie zum Beispiel, dass die Tür zur Terrasse einen Spalt offen blieb, damit sie jederzeit fliehen könne. Im weiteren Verlauf der Sitzungen berichtete sie mir dann, dass sie als kleines Kind über Jahre vom Vater und männlichen Verwandten sexuell missbraucht worden war und nie wirkliche Liebe erfahren habe. Ein Urvertrauen konnte sich gar nicht erst entwickeln. Im Alter von neun Jahren sei sie von den Eltern »verkauft« worden – an Leute, die Kinder-Pornos drehten. Mit dreizehn wurde sie magersüchtig und damit für die Pornofilmer uninteressant. Sie wurde stationär behandelt, stabilisierte sich wieder und schaffte sogar einen sehr guten Schulabschluss. Über ihren Freund, den sie sehr liebte, geriet sie mit zwanzig Jahren erneut in die Fänge eines Porno-Produzenten und Kinderschänder-Kreises. Der »Freund« nutzte ihre emotionale Abhängigkeit aus und zwang sie über lange Zeit, bei sadistischen und brutalen Szenen mitzumachen, bei denen sie entweder selbst das Opfer war oder dabei zusehen musste, wie andere – hauptsächlich Kinder – vergewaltigt und sexuell missbraucht wurden. Sie schilderte Dinge, die ich mir in ihrer Perversität und Brutalität niemals hätte vorstellen können. Manchmal musste ich mich regelrecht zwingen, weiter zuzuhören. Meine Patientin selbst quälte sich mit Ekel und Schuldgefühlen, nichts gegen die Gruppe unternommen zu haben, vielmehr das, was ihr schon als Kind widerfahren war, bei anderen zugelassen zu haben. Angesichts der Drohungen, man werde ihr oder ihrem Kind etwas antun, falls sie zur Polizei gehe, war ihr ein anderes Handeln kaum möglich.
    Als sie alles erzählt hatte, schaute sie mich an und fragte: »Kann man mit so etwas weiterleben?«
    Ich antwortete ihr so ehrlich, wie ich es empfand: »Ich weiß es nicht!«
    »Und was soll das jetzt, dass ich Ihnen das alles erzählt habe? Es macht doch alles keinen Sinn!«
    Ich entgegnete ihr: »Jetzt sind es schon einmal zwei Menschen, die wissen, was Ihnen Schreckliches geschehen ist. Sie stehen nicht mehr alleine da.«
    Ihre Augen hellten sich kurz auf, ein scheues Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ich bin überzeugt, dass genau in diesem Moment der in ihr liegende Keim der Überlebenskraft geweckt wurde. Sie spürte mein Mitgefühl, erlebte Menschlichkeit, so dass in ihr langsam die stärker werdende Gewissheit wuchs: »Ich kann mich trauen zu erzählen, da steht mir einer bei, der nicht wegläuft, der wissen will, was ich erlebt habe und wie es mir geht.« Das war die Grundlage für neu entstehendes Vertrauen, den Urstoff des menschlichen Miteinanders, obwohl sie offensichtlich als Kind nie die Chance gehabt hatte, ein Urvertrauen zu entwickeln.
    Ich möchte noch einmal betonen: Was ich in dieser Situation getan habe, ist keine besondere therapeutische Leistung, sondern etwas rein Menschliches. Ich bin meiner Patientin mit einem natürlichen Mitgefühl begegnet, habe ihr beigestanden, wodurch Vertrauen entsteht. Dafür braucht man keine psychotherapeutische Ausbildung, das kann jeder leisten, der zu Empathie in der Lage ist. Es geht nicht darum, diejenigen, die Schlimmes erlebt haben, zu bemitleiden. Wir sollen auch nicht mit leiden , sondern Mitgefühl zeigen und die Stärke haben, Beistand zu leisten. Das bedeutet: dabeibleiben und zuhören, nachfragen und nachzuvollziehen versuchen, was dem anderen geschehen ist. In diesem Prozess des Verstehens und des Verstandenwerdens wird für beide Seiten spürbar, welchen Wert Mitmenschlichkeit hat und wie daraus auch bei vollkommen verzweifelten Menschen ein Überlebenswille und neue Kräfte wachsen können.
    Meine Patientin brauchte viele Sitzungen und lange Zeit, bis sie all ihre schrecklichen Erlebnisse erzählt und aufgearbeitet hatte, und es war immer wieder schwer für sie, zu vertrauen und sich zu öffnen. Aber sie schaffte es besser und besser, und das anfangs zarte Pflänzchen der Überlebenskräfte wurde immer stärker. Sie definierte ihre Lebensziele neu und wagte sogar eine berufliche Veränderung. Unseren Antisuizid-Vertrag hat sie übrigens mehr als erfüllt. Als ich sie nach unserer letzten Sitzung fragte, wie es nun weitergehe, antwortete sie: »Ich will leben und für mein Kind da sein!«
    Wenn wir uns klarmachen, dass der Mut, sich zu öffnen, auf belastete Menschen zuzugehen, menschliches Vertrauen, Mitgefühl und Solidarität

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