Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
nicht, sich anzustrengen« und »es hat ja doch keinen Sinn«), ist ein Neuanfang nach einer schweren Krise oder einem Schicksalsschlag kaum zu schaffen.
Über die Schwierigkeiten, in der Welt zurechtzukommen, wenn man keine Chance hatte, ein Urvertrauen zu entwickeln, sind Tausende Bücher geschrieben worden, dem ist nichts hinzuzufügen. Viele meiner Patienten fühlen sich zwar einerseits mit diesem Konzept in ihren Schwierigkeiten und Defiziten verstanden, andererseits aber auch abgestempelt in dem Sinn, dass es sich tatsächlich nicht lohnt, sich anzustrengen. Ohne Urvertrauen keine Chance. Meines Erachtens greift das aber zu kurz; stattdessen sollten wir beim Thema Krisenbewältigung unsere Aufmerksamkeit auch auf andere Aspekte des Vertrauens richten. Denn es gibt eine Kraft, die auch Menschen mit wenig Urvertrauen helfen kann: die Solidarität untereinander.
In allen Gruppen von Betroffenen, die ich nach Katastrophen betreut habe, hat sich ein intensives Verständnis füreinander und ein tiefes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt, das den meisten bis dahin unbekannt war und womit sie nicht gerechnet hätten. Die Erfahrung, im Leid von anderen verstanden und getragen zu werden, verbunden mit der Erkenntnis, auch andere zu verstehen, kann ungeheure neue Kräfte wecken. Ich habe diese Begegnungen in den Gruppen oft wie Inseln der Menschlichkeit erlebt: als ganz besonderen Raum, in dem sich die Betroffenen auf einer Ebene von tiefer Emotionalität, Fürsorge und Solidarität begegnet sind. Sie haben sich gegenseitig getragen und durch konstruktive Kritik Anstöße zu einer Weiterentwicklung gegeben. Dadurch schafften sie es, aus der Rolle des passiven Opfers herauszukommen und die Bewältigung ihrer Probleme aktiv anzugehen.
Deswegen gibt es nur eine Lösung und die lautet: »disclosure«. Disclosure bedeutet wörtlich Enthüllung oder Mitteilung und ist in der psychologischen Erforschung der Schutzfaktoren, die uns vor einem Scheitern bewahren, die wichtigste Größe. Wenn wir in der Krise stecken, müssen wir uns mitteilen, uns öffnen. Allein sind wir in den allermeisten Fällen überfordert. Und wenn wir andere Menschen sehen, die sich in einer Krise befinden, müssen wir uns ebenso mitteilen und öffnen, indem wir ihnen signalisieren, dass wir mitfühlen und sie unterstützen wollen. Menschen, die in sich Urvertrauen tragen, fällt das leichter. Wer an sich glaubt, kann eher auch an andere glauben und daran, ihnen etwas Gutes tun zu können. Im Umkehrschluss heißt das: Wer nicht auf die eigene Selbstwirksamkeit vertraut, wird beim Zugehen auf andere oft behindert durch Zweifel, überhaupt helfen zu können.
Mein ganz persönliches Vertrauen darauf, dass die in uns schlummernden Überlebenskräfte durch die Begegnung mit anderen Menschen nicht nur geweckt werden, sondern auch weiter wachsen können, ist gerade durch den Umgang mit jenen bestärkt worden, die geprägt waren von einem tiefen Urmisstrauen. Sie kamen schwer traumatisiert zu mir, und anfangs sah es tatsächlich so aus, als sei an eine positive Entwicklung gar nicht zu denken.
Ich erinnere mich an eine junge Frau, die schon mehrere Therapieversuche hinter sich hatte, die stets daran gescheitert waren, dass die Therapeuten nicht in der Lage gewesen waren, die Geschichten ihrer schlimmen Traumatisierungen auszuhalten. Sie wurde immer wieder mit Stabilisierungsübungen behandelt, die aber ihren Leidensdruck nicht linderten, da sie das, was sie belastete, nicht vollständig erzählen konnte. Sie hatte mehrere Selbstmordversuche hinter sich und war schließlich in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen worden. Dort, das wusste sie, würde sie nur wieder herauskommen, wenn sie sich von ihren suizidalen Gedanken distanzierte. Also versprach sie, sich nichts mehr antun zu wollen, wurde aber nach ihrer Entlassung noch verzweifelter, weil der Grund für ihre Traumatisierung einmal mehr nicht angegangen worden war. Ihre ersten Worte zu mir waren: »Ich komme zu Ihnen, weil ich von meiner Therapeutin gehört habe, dass Sie einer sind, dem man alles erzählen kann, der sich traut, sich das anzuhören. Ich will einmal einem Menschen alles erzählen, danach werde ich mich umbringen!« Obwohl mich das natürlich auch unter Druck setzte, schlug ich ihr vor, mit mir einen schriftlichen Vertrag zu schließen; mit diesem solle sie sich verpflichten, sich nicht während der Therapie umzubringen, sondern das Ende der Sitzungen abzuwarten. Danach könne sie
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