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Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Pieper
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weniger bewusst in der Gegenwart leben. Das wirkliche Leben vieler Menschen scheint erst in der Zukunft zu beginnen, sie planen für eine Zeit, wenn sie dies und das erreicht haben; dann können sie es sich endlich erlauben, so zu leben, wie sie es in ihrem Innersten wollen. So kann es dazu kommen, dass junge Familienväter die Zeit des Aufwachsens ihrer Kinder kaum mitbekommen, weil sie Karriere machen und Geld verdienen müssen, obwohl sie lieber mit den Kindern zusammen wären, oder dass Frauen den Zeitpunkt verpassen, wo es biologisch einfacher ist, Kinder zu bekommen, weil sie erst etwas erreichen wollen, oder dass ältere Menschen ihre Träume von einer Weltreise auf die Rentenzeit verschieben. Dann kommt plötzlich eine Krankheit dazwischen, ein Unfall oder ein anderes tragisches Ereignis, und es ist zu spät.
    Den Blick in die Zukunft in dem Sinne, dass man sich ausmalt, wie es wäre, wenn das Leben plötzlich vorbei oder durch ein Ereignis stark eingeschränkt wäre, vermeiden die meisten, weil er großes Unbehagen und Angst auslöst. Auf den ersten Blick betrachtet scheint es auch nicht besonders sinnvoll zu sein, sich mit derartigen Gedanken zu belasten, bereiten sie einem doch nur schlechte Gefühle. Es geht hier auch nicht darum, Worst-case-Szenarien heraufzubeschwören, die einen so verunsichern, dass man aus Angst vor den Gefahren des Lebens versucht, allen Risiken aus dem Weg zu gehen. Das führt zu der bereits mehrfach erwähnten Vermeidungshaltung und letztlich auch zu psychischem Leiden.
    Das, worauf ich abziele, geht in folgende Richtung: Wir sollten uns ab und an vor Augen halten, dass das Leben von einer Sekunde auf die andere vollkommen verändert sein kann, dass wir auf einen Schlag all das verlieren können, was wir schätzen und lieben, dass wir plötzlich krank werden oder einen Unfall haben und unser Leben nicht mehr so weitergehen wird wie bisher. Der Sinn der Beschäftigung mit solchen Gedanken besteht nicht darin, sich alle Grausamkeiten und Qualen auszumalen, die dann auf einen zukämen. Sondern darin, einen intensiveren Bezug zur Gegenwart zu bekommen. Um das wertzuschätzen, was man im Hier und Jetzt hat.
    Ich denke in dem Zusammenhang gerne an einen Patienten von mir, einen Arzt, der einmal eine hohe Verantwortungsposition als Oberarzt in einer Klinik innehatte und heute nach der Entfernung eines Hirntumors voll pflegebedürftig in einem Heim lebt. Die Operation musste von heute auf morgen bei ihm ausgeführt werden, nachdem er sich wegen Kopfschmerzen routinemäßig hatte untersuchen lassen und der Hirntumor festgestellt worden war. Bei der Operation wurden so viele Hirnzentren zerstört, dass er fortan massiv eingeschränkt war: er konnte kaum noch sprechen, seine gesamte Motorik war gestört, er konnte nicht mehr gehen, hatte keine funktionierende Feinmotorik mehr, konnte nicht mehr lesen, sich weder alleine waschen noch zur Toilette gehen. Aber geistig war er vollkommen klar, er konnte denken wie früher. Als ich ihn traf – und auch noch in den ersten Monaten meiner Betreuung – war er so verzweifelt, dass er nur davon sprach, sterben zu wollen. Am schlimmsten fand er, aufgrund seiner Einschränkungen nicht einmal mehr die Möglichkeit zu haben, sich selbst das Leben zu nehmen. Um einen solchen Satz herauszubringen, brauchte er fast eine Viertelstunde, es bedurfte größter Anstrengung, Worte zu formen und auszusprechen.
    Heute, drei Jahre später, hat er viel dazugelernt: Er kann langsam sprechen, sich selber in einem Elektrorollstuhl bewegen und am PC über Großbuchstaben schreiben und lesen. Er pflegt Kontakte mit vielen Menschen und hat sogar eine Freundin gefunden. Seinen Beruf wird er nie wieder ausüben können, er hat alles, was ihm früher wichtig war, verloren. Sein Leben ist viel langsamer und eingeschränkter als früher, und das bezeichnet er heute als sein Glück. Er lässt sich Zeit, in den Gesichtern seiner Mitmenschen zu lesen. Ich bin sehr erstaunt, wenn ich zu ihm komme und er mich fragt, warum es mir heute nicht so gut geht – er sieht es mir an. Er freut sich über den Augenkontakt mit einer jungen Schwester, die ihm zulächelt und ihm deutlich macht, dass sie ihn mag. Er setzt sich ein für andere Bewohner des Heims, die noch eingeschränkter sind als er, und beantwortet zum Beispiel Briefe für sie. Seine Welt ist klein geworden, aber er sieht viele bereichernde Elemente darin und versichert mir, dass er zufrieden ist, dass es ihm gut geht und er noch

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