Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
zu erreichen.
Wenn ich mir noch einmal vergegenwärtige, wie es den Menschen ging, die durch den Tsunami in Ostasien Hab und Gut und geliebte Menschen verloren haben und an diesem schweren Schlag dennoch nicht gescheitert sind, fällt mir eines besonders auf: Sie alle haben nach einer gewissen Zeit des Geschockt- und Betäubt-Seins und der Trauer über den Verlust ihr Schicksal angenommen und mit ganz kleinen Schritten wieder neu angefangen. Sie haben sich realistische Ziele gesetzt, die oft nur die Zeitspanne von einem Tag umfassten: »Heute will ich es schaffen, diese kleine Fläche, zwei mal zwei Meter, von Trümmern freizuräumen. Morgen nehme ich mir ein neues Stück vor.« Interessanterweise kamen diese Menschen nach meinen Beobachtungen deutlich besser mit ihrem Schicksal zurecht als diejenigen, die sich handlungsunfähig verhielten – bis ihnen Hilfsorganisationen neue Häuser gebaut und ein Boot zur Verfügung gestellt hatten. Während Erstere aktiv die Kontrolle zurückgewonnen hatten, fügten sich die anderen in ihre Hilflosigkeit.
Übertragen auf unsere Alltagsprobleme bedeutet das, dass wir uns eine Krise zunächst eingestehen müssen: Wir müssen akzeptieren, dass wir uns in einer Ausnahmesituation befinden und den Alltag nicht genauso weiterleben können wie vorher. Aus der Position dieser die Krise akzeptierenden Grundhaltung heraus können wir dann kleine Ziele formulieren, die Schritt für Schritt anzugehen sind. Das Erreichen dieser kleinen Etappen gibt uns jeweils die Kraft und den Mut, die nächsten Hürden zu nehmen. Der positive Effekt dabei ist, dass wir eine Selbstwirksamkeit erleben, die einen Kontrapunkt zur erlebten Hilflosigkeit während der Krise setzt.
Diese kleinen Etappenziele können ganz banale Alltagsdinge sein: morgens aufstehen, regelmäßige Malzeiten einnehmen, den Haushalt in Ordnung halten, einen Brief schreiben, ein wichtiges Telefonat führen, eine Person besuchen, deren Rat weiterhelfen könnte und so weiter. Die »Messlatte« kann später höher gelegt werden bis hin zu Tätigkeiten, die direkter mit der Bewältigung der Krise zu tun haben.
Lehre 6
Wer es schafft, kleine Ziele nacheinander anzugehen, sieht seine Erfolge und kann sich daran aufrichten. So wird Kraft frei, sich auch an höhere Hürden heranzuwagen, die eben noch unüberwindlich schienen.
Neue Prioritäten setzen
Viele Katastrophenopfer haben mir berichtet, dass sich ihre Prioritäten und Ziele nach dem Unglück verändert haben. Vor allem das ständige Bemühen um mehr materiellen Wohlstand sei in den Hintergrund gerückt. Der Drang, sich mit Nachbarn oder Freunden zu vergleichen und danach zu trachten, mindestens so viel zu besitzen wie diese, habe sich abgeschwächt. Die Vorstellung, nur dann glücklich sein zu können, wenn man Statussymbole anhäuft – ein teures Auto, eine große Wohnung oder ein Haus, Markenkleidung oder luxuriöse Reisen –, habe sich als Irrweg entpuppt. Stattdessen rückten nun die kleinen, vermeintlich wertlosen Dinge des Alltags stärker in den Vordergrund. Alles, was ihnen früher banal und selbstverständlich erschienen war, habe heute einen höheren Stellenwert. Weil sie wüssten, wie schlimm es ist, diese »kleinen Dinge« zu verlieren.
Aus den Erfahrungen von Menschen, die sich nach einer Katastrophe gezwungenermaßen vollkommen neu orientieren mussten, können wir eine Menge lernen, was die Ausrichtung unserer Prioritäten angeht. Sehr überzeugend fand ich in diesem Zusammenhang die Lebensgeschichte von Philippe Pozzo di Borgo, einem aus dem korsischen Hochadel stammenden Aristokraten, der als Geschäftsmann eine steile Karriere und viel Geld gemacht hatte. Ein Unfall beim Gleitschirmfliegen stellte sein ganzes Leben auf den Kopf. Seitdem ist er vom Halswirbel abwärts gelähmt und sitzt im Rollstuhl. Seine Erlebnisse hat er in einem literarisch und psychologisch beeindruckenden Buch dokumentiert, das inzwischen auch verfilmt wurde. »Ziemlich beste Freunde« feierte 2012 Erfolge in ganz Europa. Pozzo di Borgo erzählt eindrucksvoll, dass er in seiner neuen Situation dem Leben Erstaunliches abgewinnen kann. Er sagt, wenn man der Vergangenheit nachtrauere oder sich die Zukunft nur rosig ausmale, sei man ein toter Mann. Nach über zwanzig Jahren Schmerz und Lähmung habe er eines gelernt: »Alles, was ich bin, bin ich im Augenblick.« Sein Ziel sei es, die Gegenwart, diesen einen Moment, intensiv zu erleben. Dieser Moment halte eine so große Vielfalt bereit, die
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