Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
eigenen engen Gedankenwelt herauszukommen und mit einer Person seines Vertrauens zu reden. Dadurch kann zum ersten Mal das Gefühl entstehen, nicht mehr nur noch passives Opfer der schweren Situation zu sein, sondern jemand, der aktiv etwas unternimmt, seine Lage zu verbessern. Über einen längeren Zeitraum in der Rolle des passiven Opfers zu verharren, begünstigt Hilflosigkeitsgefühle und verstärkt depressive Zustände.
Um diesen ersten Schritt zu erleichtern, sollte man sich vor Augen halten, dass man alles, was man im Leben je erreicht hat, nicht ohne einen ersten Schritt bewirkt hätte: Ohne sich zur Prüfung anzumelden, hätte man heute keinen Führerschein, ohne das Bewerbungsgespräch hätte man nicht den Job, mit dem man heute sein Geld verdient, ohne den ersten Flirtversuch wäre man heute nicht verheiratet und so weiter.
Entscheidend ist das Gefühl, losgegangen zu sein, einen Prozess in Gang gesetzt zu haben, an dessen Ende man sich sagen kann, ohne den ersten Schritt wäre ich nie bis hierhin gekommen. Für einen depressiven Menschen, dem jede Aktivität sehr schwer fällt und der keine Kraft hat, sein Leben so fortzusetzen, wie er es immer getan hat, der nicht mehr in der Lage ist, das in seinem Alltag zu tun, was getan werden muss, kann der entscheidende erste Schritt zum Beispiel sein, wieder mit dem Joggen anzufangen.
Hat er diesen Schritt geschafft, kann das in der Tat, wie Aristoteles sagte, schon die gefühlte »Hälfte vom Ganzen« sein. Denn dieser schwierige Schritt weckt neue Kräfte im Menschen, die er zur Bewältigung der anderen Aufgaben braucht.
Lehre 8
Viele Menschen neigen in Krisensituationen eher dazu, zu klagen als zu handeln. Ein altes chinesisches Sprichwort sagt: »In der Dunkelheit ist es besser, eine Kerze anzuzünden, als zu klagen.« Wir können uns darin üben, die Initiative zu ergreifen und planvoll vorzugehen. Der erste Schritt besteht darin, aus Stimmungen wie planloser Hektik oder depressiver Passivität herauszukommen und sich anderen Menschen zu öffnen.
Nachwort
Ein Blick über die Grenzen oder was wir von anderen Kulturen lernen können
Wir alle sind geprägt von dem Umfeld, in dem wir leben. Im Großen wie im Kleinen, von der Familie über den Freundeskreis bis hin zu der Gesellschaft, in der wir aufwachsen. Unsere Umgebung strahlt immer auf uns ab. Wir lernen von ihr, übernehmen Werte und Haltungen. In Kindertagen tun wir das eher unbewusst, in der Zeit der Adoleszenz versuchen wir, uns abzugrenzen, das, was die Eltern uns vorleben, auf den Prüfstand zu stellen, bis wir unsere eigene Position gefunden haben. Aber auch danach sollten wir diese hin und wieder abklopfen. Nur so können wir uns weiterentwickeln. Der Blick über den eigenen Tellerrand hinaus sollte ein »Wagnis« sein, das wir ein Leben lang eingehen sollten. Andere Menschen und deren Sicht auf die Dinge in seine eigenen Überlegungen miteinzubeziehen ist in jeder Hinsicht sehr bereichernd.
Für mich persönlich war in den vergangenen Jahren allein schon aufgrund meiner Arbeit dabei auch der Blick über geografische Grenzen ungeheuer spannend. Ich wollte wissen, wie Betroffene großer Katastrophen in anderen Ländern mit den Folgen umgehen und ob es Unterschiede zu unseren Bewältigungsstrategien gibt. Für mich war dieser Blick über den Tellerrand wirklich lohnend. So war ich zum Beispiel 1999 nach dem Jahrhundert-Erdbeben von Gölcük, bei dem es über 17 000 Tote gegeben hatte, von türkischen Kollegen nach Istanbul eingeladen worden. Dort sollte ich vor Psychologen, Ärzten, Sozialarbeitern, Lehrern und Krankenschwestern einen Vortrag über meine Erfahrungen bei der Betreuung und Behandlung von Katastrophenopfern halten. Dabei erwähnte ich auch die für uns Mitteleuropäer entscheidende Voraussetzung für eine Traumatherapie: Das Trauma muss beendet sein, der Betroffene muss wieder in Sicherheit sein. In der anschließenden Diskussion mit den Kollegen in Istanbul wurde mir schnell klar, dass die Situation dort eine vollkommen andere war und immer noch ist. Das eine Erdbeben war zwar vorbei, aber es konnte noch immer zu Nachbeben kommen, die möglicherweise noch verheerender sein würden. Und nicht nur das: Die Bewohner Istanbuls wissen, dass ihre Stadt auf einem Kontinentalgraben liegt. Es ist bekannt, dass dort durch tektonische Verschiebungen so starke Spannungen entstehen können, dass die Millionenstadt eines Tages vollkommen zerstört werden könnte. Wissenschaftler haben die
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