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Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Pieper
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Szenarien schon ausgemalt: Millionen von Obdachlosen, bis zu 100 000 Tote, 300 000 Verletzte, dazu Großbrände und Chemiekatastrophen. Mit anderen Worten: Die Gefahr ist dort nie gebannt, niemand weiß, wann es zu dem Mega-Erdbeben kommen wird, nur dass es irgendwann so weit sein wird, gilt als sicher.
    Ein junger türkischer Kinderarzt zeigte mir nach dem Vortrag seine Klinik. Wir standen vor einem hohen Gebäude, und er bat mich, die Stockwerke zu zählen. Fünf, zählte ich. »Im obersten befindet sich mein Arbeitsplatz, die Kinderstation«, erklärte er mir. »Eine Baugenehmigung gibt es aber nur für vier Stockwerke! Und siehst du die Risse in den Wänden? Das sind die Auswirkungen des Erdbebens, das 100 Kilometer entfernt von hier stattgefunden hat.« Hätte sich das Beben in Istanbul ereignet, wäre das gesamte Krankenhaus nur noch Schutt und Asche gewesen. »Aber soll ich deswegen aufhören zu arbeiten?«, fragte er mich. »Soll ich nur an meine eigene Sicherheit denken und in ein anderes Land gehen?« Rhetorische Fragen, mit denen er mir sagen wollte, dass er – wie alle Menschen in der Stadt – nun einmal mit diesem Risiko leben muss.
    Ich hatte in diesem Moment das Gefühl, weniger Lehrender als Lernender zu sein. Denn in dieser Begegnung wurde mir mal wieder klar, in welch privilegierter Lage wir uns befinden. Zwischen gefühlter und tatsächlicher Bedrohung klafft eine große Lücke, zumindest wenn wir die gesamte Gesellschaft dabei im Blick haben. Persönliche Tragödien ereignen sich immer – aber wir sollten dankbar sein dafür, dass die Bedrohungen von außen für uns vergleichsweise gering sind. In dieser Hinsicht kann der Blick über die Grenzen helfen, unsere Probleme doch etwas zu relativieren.
    Bei meinem Besuch nach dem schweren Beben habe ich noch etwas anderes festgestellt: Jeder, dem ich begegnete, war erschüttert, beklagte die vielen Toten und das entstandene Leid. Aber ich hatte das Gefühl, dass die Grundhaltung zu einem solchen Ereignis eine andere war, als ich sie aus Deutschland kannte. Ich spürte ein größeres Maß an Akzeptanz, dass solche Dinge eben geschehen; dass die Gefahr, dass das eigene Leben von einem auf den anderen Tag durch ein Erdbeben ausgelöscht werden kann, die Menschen immer begleitet. »Kismet«, hörte ich in jenen Tagen immer wieder – wenn es geschieht, sei dies einfach das ihnen von Allah zugeteilte unabänderliche Schicksal. Eine Haltung, die meinem Empfinden nach die Menschen in gewisser Hinsicht ruhig machte.
    Natürlich lässt sich diese Sichtweise nicht eins zu eins auf unsere Kultur übertragen; aber sicher ist, dass viel psychischer Stress aus unserem dauernden Bemühen entsteht, alles lenken und beeinflussen, alles im Griff haben zu wollen. Im Falle eines Scheiterns entstehen daraus beinahe zwangsläufig Unzulänglichkeitsgefühle, Selbstanklagen und Schuldzuweisungen, wie man sie oft auch bei Traumatisierten findet.
    Ein anderes Ereignis, das ich in diesem Schlusskapitel noch einmal aufgreifen möchte, ist der Tsunami von Dezember 2004. Als meine Schwester mich damals anrief und mir von ihrer großen Angst erzählte, ihre Tochter könne eines der Opfer sein, habe ich – trotz meiner ganzen Erfahrung – reagiert wie aus dem Lehrbuch. Ich konnte und wollte nicht glauben, was ich da hörte. Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Als ich die Bilder im Fernsehen sah, begriff ich zwar die Dimensionen dieser verheerenden Naturkatastrophe. Aber dass meine Nichte davon betroffen sein sollte, schob ich in den Bereich des Unwahrscheinlichen. Die Realität sickerte erst in mein Bewusstsein, als Tage nach dem Tsunami das LKA im Haus meiner Schwester nach einer Bürste oder Ähnlichem anfragte, um eine Genprobe zu nehmen. Aber auch dann wollte ich das Undenkbare nicht in vollem Ausmaß denken. Nach 14 Tagen des zermürbenden Wartens kam die Gewissheit. Meine Nichte wurde in einem verschlossenen Zinksarg nach Deutschland überführt, ihre Eltern durften sie nicht einmal mehr sehen.
    Schon aufgrund dieser familiären Betroffenheit war ich besonders daran interessiert, mehr über die Hintergründe der Menschen zu erfahren, die über Tage und Wochen mit diesem Ereignis konfrontiert waren und ihre Liebsten, Freunde oder ihr Hab und Gut dabei verloren hatten. Ich unternahm Reisen nach Sri Lanka, in jene Küstenregion, die vom Tsunami besonders betroffen war, und nach Thailand in die Gegend von Khao Lak, wo damals mehr als 5000 Menschen ihr Leben verloren. In

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