Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Und wer loslassen kann, hat viel bessere Möglichkeiten, den Augenblick zu genießen, als einer, der alles festhalten will. Die buddhistische Maxime ist: Was ich habe, ist mir in diesem einen Augenblick gegeben, und diesen genieße ich, aber ich halte ihn nicht fest.
Wer schon als Kind mit dieser Grundhaltung aufwächst und sich auch später immer wieder darin übt, kann ganz anders mit Verlustsituationen umgehen, als uns das in der Regel zu eigen ist. Wir haben die Tendenz, mit aller Macht bewahren und festhalten zu wollen. Daher kreisen wir auch oft genug um das Thema, was wir schon verloren haben, statt zu sehen, was wir dazugewonnen haben. Und damit meine ich jetzt weniger materielle Dinge, sondern eher emotional besetzte. Denn wir schätzen das, was wir nicht offensichtlich mit einem Mehrwert benennen können, oft viel zu gering ein.
Das oberste Ziel im Buddhismus ist es also, einzugehen in das »All-Eine«, als Tropfen ins Meer zu fallen, in das absolute Nichts, das Nirwana. Für einen Buddhisten reiner Lehre ist nicht nur das »Ich« eine Illusion, da es keine Beständigkeit hat, sondern auch die Beziehung zu anderen. Das Leben ist vielmehr ein Zusammengehen von einzelnen Daseinsfaktoren, die mit dem Tod auseinanderfallen. Insofern gibt es im Buddhismus auch keine individuelle Hoffnung auf ein Wiedersehen. Die gestorbene Person hat ihren Daseinsweg hier und jetzt beendet, sie wird in einer anderen Weise wiederkommen oder am Ende dieses Kreislaufs als »Erleuchteteter« oder »Erwachter« befreit und erlöst sein.
Die Vorstellung der Wiedergeburt, der Reinkarnation aus fernöstlicher Sicht, bedeutet, dass der Mensch das, was er in seinem Leben nicht geschafft hat, im nächsten Leben abarbeiten muss. Im eher volkstümlichen Buddhismus kann die Wiedergeburt in einem anderen Menschen oder in einem anderen Lebewesen geschehen. Daraus entsteht ein großer, in buddhistischen Ländern im Alltag immer spürbarer Respekt gegenüber allem Leben.
In differenzierteren Reinkarnationskonzepten wird das »Abarbeiten« nicht als individueller Prozess verstanden (ein Mensch, der schlechte Taten in seinem Leben vollbracht hat, muss in seinem nächsten Leben dafür büßen, indem er etwa als armer Schlucker oder als Kranker geboren wird), sondern als kollektiver Prozess. Die eher verwässerten westlichen Reinkarnationskonzepte sehen darin eine Chance, die vielfältigen Freuden des Lebens mehrmals genießen zu können, da man schließlich wiedergeboren wird. Das entspricht jedoch nicht der eigentlichen Lehre Buddhas. Kein Buddhist will wiedergeboren werden – er möchte vielmehr dem Kreislauf des Werdens und Vergehens entkommen. Ziel ist es, vollkommen loslassen zu können und einzugehen ins Nirwana, das absolute Nichts. Dieser Zustand bedeutet das Erlöschen des Durstes. Der Durst ist nach der Lehre Buddhas der Grund für das ewige Leiden. Der Durst nach Besitz, nach Leben, nach Liebe, nach Macht, Einfluss und persönlichem Wohlbefinden. Wir leiden, weil wir etwas nicht haben, wonach wir streben. Und wenn wir es haben, leiden wir, weil wir Angst haben, es zu verlieren. Die Erlösung wäre es, dieses Bedürfnis, diesen »Durst« überwinden zu können. Für einen Buddhisten bedeutet das Verlöschen des Lebensdurstes in letzter Konsequenz das Loslassen des eigenen Ich, das Loslassen von den Konzepten des eigenen Lebens. Der Weg zu diesem Ziel wird über den »edlen achtfachen Pfad« erreicht, der aus drei Hauptgruppen besteht: der »rechten Einsicht« oder Weisheit, dem »rechten Handeln« oder der Sittlichkeit und der »rechten Vertiefung« oder Meditation und Achtsamkeit.
Was bedeutet das nun für unser Thema? Ein Buddhist ist durch seine bereits erwähnte Grundhaltung (»Leben ist Leiden«) darauf eingestellt, dass Krisensituationen immer wieder auf ihn zukommen. In diesen Situationen bleibt er handlungsfähig, weil er einen Weg vor Augen hat, wie er das Leid überwinden kann – ebenjenen »edlen achtfachen Pfad«. Er übt sich beständig darin loszulassen. Wenn zum Beispiel ein Tsunami alles weggerissen hat, die Familie, die Freunde und den Besitz, wird ein gläubiger Buddhist darin Trost finden, dass dies Teil des Lebens ist, der Lauf der Dinge, den er nicht aufhalten kann. Bei allem Schmerz wird sein oberstes Ziel sein, die verlorenen Menschen und den verloren materiellen Besitz loszulassen, genau wie die eigene Verbitterung über das Geschehene. Ein Mensch, der diese wohl schwierigste Aufgabe bewältigt, ist
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