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Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Pieper
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Weg begleiten und mit ihnen in einen Dialog treten. Wir sollen uns auch nicht selbst anklagen für etwas, das wir unterlassen oder falsch gemacht haben. In unserem Kulturkreis galt Krankheit lange Zeit als Strafe, als Zeichen von schwerer Schuld und Sünde. Jesus heilt den Gelähmten nicht einfach, er spricht ihn von seinen Sünden frei. Diese Freisprechung – also die Heilung seiner Psyche – ist die Grundlage für die Genesung des Kranken. Selbstvorwürfe und Schuldzuweisungen lähmen im wahrsten Sinne des Wortes. Und noch etwas können wir aus dieser Geschichte lernen: Es lohnt sich, auch Umwege zu beschreiten, Mühsal auf sich zu nehmen. Nichts anderes ist für viele Menschen letztlich die Konfrontation mit einem Schicksalsschlag. Hinschauen tut weh, neuerliches Durchleben der Situation schmerzt, aber letztlich ist dies der einzige Weg zu einer Überwindung des belastenden Ereignisses.
    Für viele Menschen ist die Konfrontation mit dem Tod ein höchst belastendes Ereignis. Die eigene Sterblichkeit macht uns Angst, dem Tod von Angehörigen stehen wir oft hilflos gegenüber – weil er uns an unseren eigenen, vorgegebenen Weg erinnert. Im christlichen Denken bleibt die Beziehung zu einem Menschen über dessen Tod hinaus bestehen. Der Tod beendet nicht eine Beziehung, er wandelt sie. Für einen gläubigen Christen gilt: Die Verstorbenen sind im Reich Gottes aufgehoben, wir dürfen darauf hoffen, dass es ein Wiedersehen geben wird. Bildlich gesprochen wird es dereinst ein großes Verwandtschafts- und Freundschaftstreffen an einer langen Tafel geben. Der Glaube an das Bestehen der individuellen Beziehung und an ein Wiedersehen nach dem Tod – es wird ein anderes Sehen sein, als das, was wir Lebenden darunter verstehen, die lange Tafel ist eine Metapher – ist ein großer Trost im Christentum.
    Eng verbunden mit diesem Beziehungs- und Wiedersehensgedanken ist die Liebe. Bei Johannes (Erster Brief 3,14) steht geschrieben, dass derjenige, der liebt, das ewige Leben haben wird, auf denjenigen, der hasst, aber nur der Tod wartet. Wer sich an Gott festmacht – und damit an der Liebe –, der wird aufgefangen werden. Zunächst aber ist es wichtig, die Endlichkeit anzunehmen und zu akzeptieren, dass der Tod zum Leben gehört. Wir müssen Ja sagen zu unserer Sterblichkeit. Der gestorbene Mensch ist nicht ins Nichts gefallen, sein Leben geht in einer anderen Dimension weiter. Der Tod ist nicht das Ende, sondern nur das Ende der körperlichen Beziehung. Das Leben, der Odem, den Gott den Menschen eingehaucht hat – man könnte auch sagen die Seele –, ist bei Gott gut aufgehoben. Der Einzelne in seiner Individualität geht nicht verloren. Wir dürfen hoffen, die Toten wiederzusehen, wenn auch auf eine sich unserem irdischen Verstand nicht erschließbare Weise.
    Mitten im Krieg, in Zeiten der Unmenschlichkeit, des Chaos und der Zerstörung, schrieb der deutsche Jude Schalom Ben-Chorin 1942 über ebendiese Hoffnung das Gedicht »Das Zeichen«. In Borken wird es bei jeder Gedenkfeier von allen Angehörigen, die einen Menschen bei der Grubenkatastrophe verloren haben – also Christen, Muslimen und Nichtgläubigen –, gemeinsam gesungen:
    »Freunde, dass der Mandelzweig
    wieder blüht und treibt,
    ist das nicht ein Fingerzeig,
    dass die Liebe bleibt. (…)
    Tausende zerstampft der Krieg,
    eine Welt vergeht. (…)
    Freunde, dass der Mandelzweig
    Sich in Blüten wiegt,
    bleibe uns ein Fingerzeig,
    wie das Leben siegt.«
    In diesem Gedicht kommt der jüdische und auch christliche Glaube zum Ausdruck, dass das Leben stärker ist als der Terror, die Katastrophe, die Krise und der Tod. Darin steckt eine starke Kraft, auf die sich der Mensch innerlich einstimmen und durch die er in kritischen Situationen getragen werden kann. In der Praxis konnte ich mich davon in zahlreichen Gesprächen mit Katastrophenopfern überzeugen. Auf die Frage, was ihnen am besten geholfen habe, ihre schwere Situation zu bewältigen, sagten die meisten Betroffenen: »Die Hilfe und der Beistand meiner Familie und meiner Freunde.« Mit anderen Worten: Vertrauen, Beziehung, Dialog und Liebe.
    Im Buddhismus hingegen stehen nicht Beziehung und Dialog im Zentrum. Der Einzelne wird nicht als Individuum betrachtet, sondern wie ein Tropfen, der ins Meer fällt. Aus dem Wasser wird man den Tropfen nicht mehr herausholen können, er hat sich aufgelöst, ist in seiner Umgebung aufgegangen. Im übertragenen Sinn heiß das: Es geht darum loszulassen, gelassen zu sein.

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