Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
muss, sondern immer ein Kollege dabei ist) – wieder aufzunehmen.
Neue Stärke gewinnen durch »Habituation«
Die wichtigste Erfahrung, die Patienten, die sich auf eine Konfrontation einlassen, machen können, ist folgende – und sie ist für viele eine überraschende: Anspannung und Schmerz lassen nach, je intensiver sie sich mit dem Geschehen beschäftigen. Der therapeutische Fachbegriff hierfür ist »Habituation«. Dies bedeutet nichts anderes als die Gewöhnung an etwas Unangenehmes, uns ursprünglich Störendes. Menschen, die zum Beispiel an einer stark befahrenen Eisenbahnstrecke wohnen, bemerken nach einiger Zeit den Lärm der vorbeidonnernden Züge gar nicht mehr. Etwas Ähnliches passiert bei der Bewältigung traumatischer Erfahrungen. Die Auseinandersetzung mit dem Schmerz wird so intensiv betrieben, dass Körper und Geist im Laufe der Zeit nicht mehr hilflos von Gefühlen überflutet werden, sondern in diesen Stresssituationen immer ruhiger und gelassener reagieren. Die Betroffenen erleben dann, dass sie es nicht mehr nötig haben, dem Schmerz auszuweichen, sondern dass sie ihn bewältigen und irgendwann hinter sich lassen können. Es tritt letztlich eine Art Gewöhnung ein, die als neue Stärke empfunden wird.
Mit dem Mittel der Habituation arbeitet man auch in der Physiotherapie. Bei muskulären Problemen wie Rückenschmerzen sucht der Physiotherapeut nach sogenannten Triggerpunkten. Das sind Stellen, an denen ein mit dem Daumen ausgeübter Druck besonders weh tut. Dieser Punkt wird so lange gedrückt, bis der Patient nach einer Weile sehr deutlichen Schmerzes spürt, dass dieser nachlässt und er sich mehr und mehr entspannen kann. Analog zu diesem Beispiel wissen wir seit langer Zeit, dass es zum Beispiel bei der Therapie von Angststörungen sinnvoll ist, die relevanten Ängste gezielt zu aktivieren. Der Triggerpunkt bei einem Patienten mit Höhenangst wäre es etwa, diese bewusst – begleitet von einem Therapeuten – hervorzurufen. Man steigt gemeinsam auf einen hohen Turm, damit der Patient dort oben spürt, wie die Angst, nachdem sie für eine Weile auf einem hohen Belastungsniveau »gefeuert« hat, nach und nach absinkt. Am Ende einer derartigen Behandlung schafft es der Betroffene in der Regel, ohne körperliche Symptome wie Schweißausbrüche, Zittern, Kloß im Hals, eiskalte Hände und Füße etc. auf dem Turm zu verweilen.
Das Muster, das dem zugrunde liegt, ist offenbar die Tatsache, dass wir Menschen so »gestrickt« sind, dass wir uns an solche unangenehmen, schmerzhaften und angstbesetzten Reize gewöhnen können. Mit anderen Worten: In der Bearbeitung einer Belastung erleben wir Stärke und entwickeln neue Kräfte – nicht aber in deren Vermeidung.
Voraussetzung für eine derartige Entwicklung ist, dass der Patient gut vorbereitet ist, den Sinn dieser Behandlung versteht, damit einverstanden ist und dass er sich genügend Zeit beim Erleben der Angst nimmt und nicht vorzeitig, das heißt bevor sich das Phänomen der Habituation einstellt, abbricht.
Wenn der Betroffene bereit ist, sich dem Trauma zu stellen, gibt der Therapeut ihm eine entscheidende Meta-Botschaft mit auf den Weg. Sie lautet: »Du bist stärker als das Trauma. Du bist in der Lage, dich dem zu stellen und es dadurch zu bewältigen!« Eher zögerliche Therapeuten, die über einen längeren Zeitraum eher andere Wege wählen als den der Konfrontation (wie zum Beispiel Stabilisierungsübungen oder Übungen, das Trauma »wegzupacken«), vermitteln damit letztlich die fatale Meta-Botschaft: »Vorsicht! Das Trauma ist sehr mächtig, es ist stärker als du! Du bist zu schwach, du musst ihm ausweichen.«
Viele Traumatherapien kommen heute nicht über diese »Stabilisierungsphase« hinaus, in der die Patienten lernen, sich vom Trauma zu distanzieren oder sich an einem imaginierten »sicheren Ort« zu entspannen und Kraft zu tanken. Diese zweifellos sinnvolle Vorbereitungsphase wird zum schwächenden Element, wenn es anschließend nicht zur Konfrontation und damit zur eigentlichen Aufarbeitung kommt.
Stabilisierungsübungen können immer nur kurzfristig Erleichterung verschaffen, sind aber keine Lösung der eigentlichen Probleme. Auf Dauer angewandt, sind sie eher zu den Vermeidungsstrategien zu zählen und führen damit zu einer Destabilisierung des Patienten. Selbst in vielen Kliniken besteht die meiner Meinung nach unzureichende »Traumatherapie« oft nur darin, diese Stabilisierungstechniken zu üben und das Trauma
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