Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
nehmen wir gerne als Helden wahr, die der Macht der Naturkräfte getrotzt haben und freuen uns über das Glück, das sie im Unglück gehabt haben.
Wie kommt es, dass diese Menschen sich häufig ganz anders fühlen, als wir vermuten? Warum fühlen sie sich häufig schuldig für etwas, das sie gar nicht beeinflussen konnten? Warum sind sie aus ihrer eigenen Sicht nicht die »Glückspilze«, als die sie in der Presse gefeiert werden, obwohl sie mit wenigen anderen die Katastrophe überlebt haben?
»Ich wäre lieber tot« – Überlebensschuld
Die sechs geretteten Kumpel des Grubenunglücks von Borken sind ein Protobeispiel für die sogenannte Überlebensschuld, die für einen Außenstehenden zunächst schwer nachvollziehbar erscheint. Als die Eingeschlossenen am Schein heller Lampen erkannten, dass der lang ersehnte Rettungstrupp endlich zu ihnen vorgedrungen war, konnten sie es im ersten Moment nicht glauben. Einer der Kumpel sagte hinterher: »Wenn du da unten liegst und verzweifelst, dann siehst du Lichter, die es gar nicht gibt. Und wenn dann tatsächlich Lichter kommen, dann glaubst du es gar nicht und denkst, du träumst nur!«
Retter und Gerettete fielen sich in die Arme und weinten vor Freude. Viel Zeit durften sie nicht verlieren, da die Sauerstoffvorräte begrenzt waren. Die Eingeschlossenen wurden anschließend von der Grubenwehr mit schwerem Atemgerät ausgestattet und zum Schacht gebracht, aus dem sie mit einer Rettungsgondel einer nach dem anderen ausgefahren wurden. Für die Geretteten war es ein unvergessliches Erlebnis, wie sie »zuerst einen winzigen hellen Punkt oben sahen, das Tageslicht, der dann größer und größer wurde, Rettung und Freiheit bedeutete«. Kaum über Tage angekommen, stürmte mit einer ungeheuren Macht eine Vielzahl von Eindrücken, Informationen und Empfindungen auf sie ein, die die menschliche Psyche nicht auf einmal verarbeiten kann: Kamerateams aus aller Welt drängten sich um den Schacht, um Bilder ihrer Gesichter einzufangen; Vertreter der Firma klopften ihnen auf die Schultern, Betriebsleiter und Kollegen umarmten sie; Pressevertreter wollten Statements und hielten ihnen Mikrofone vors Gesicht, Sanitäter wollten sie versorgen. In einem abgeschirmten Raum trafen sie auf ihre Angehörigen, die sie weinend in den Arm nahmen, überhaupt wollte jeder sie anfassen, festhalten, drücken. Dann erfuhren sie, dass für sie bereits Särge bestellt worden waren; von offizieller Seite waren alle noch im Berg befindlichen Kumpel wegen der tödlichen Gase bereits für tot erklärt worden, niemand hatte offenbar mehr an eine Überlebenschance geglaubt. Und schließlich erhielten sie die bittere Nachricht, dass 51 Kumpel tödlich verunglückt und sie selbst die einzigen Überlebenden der Katastrophe waren. Nach einer endlos lang erscheinenden Zeit zuhause angekommen, wurden sie erneut von aufdringlichen Kamerateams erwartet, die sie interviewen wollten.
Am nächsten Tag prangten die Bilder der Geretteten groß auf sämtlichen Zeitungen, dazu die Schlagzeile: »Das sind sie – die Glückspilze von Borken!«
Auch in den folgenden Wochen und Monaten erhielten sie permanent Anrufe von Journalisten verschiedener Tageszeitungen, Wochenjournale und Magazine sowie von Fernsehsendern, die sie in ihre Talkshows einladen wollten, alle mit der Absicht, sie als »die Helden von Borken« darzustellen. Der allgemeine Tenor war: Diese sechs können sich glücklich schätzen, die schlimme Katastrophe überlebt zu haben.
Als ich die Geretteten zum ersten Mal traf, hatte ich sechs zutiefst verunsicherte Männer vor mir. Sie waren in nachdenklicher und depressiver Stimmung und wirkten ein bisschen wie Wesen von einem anderen Stern, die sich auf dieser Welt noch nicht richtig zurechtfinden können. Alles war so schnell gegangen, dass ihre Psyche noch im Stollen eingeschlossen schien. Ihre Körper waren gerettet und unversehrt, aber der Geist war nicht nachgekommen. Sie saßen mir zwar gegenüber, fühlten sich selbst aber mehr tot als lebendig, ihre Gefühle waren wie betäubt.
Wir gingen in aller Ruhe und in mehreren Treffen durch, was genau geschehen war, bis sie das ganze Ausmaß der Katastrophe begriffen hatten. Nachdem einige Zeit vergangen war und sie auch die Beerdigungen der engsten Freunde überstanden hatten, traten belastende Themen und Probleme deutlicher zutage: Eine der zentralen Fragen kreiste darum, warum sie überlebt haben, während die anderen umgekommen waren. Einer der Kumpel
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