Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
sagte: »Ich fühle mich nicht als besserer Mensch, warum also habe ich überlebt?« Ein anderer fragte sich, ob es dem ein oder anderen nicht vielleicht sogar recht gewesen wäre, wenn er »da unten geblieben« wäre – sein Sarg war ja bereits bestellt. Dass es nicht geliefert worden war, war letztlich den geringen Kapazitäten im Ort geschuldet war; das Bestattungsinstitut war heillos überfordert mit der hohen Zahl an Toten. Fast alle sorgten sich darum, ob die Angehörigen der Toten ihnen das Überleben nun neiden würden. Und Schuldgefühle und Albträume plagten alle sechs Bergleute: »Ich träume jede Nacht von meinen Freunden, sie rufen mich zu sich, sie sagen, ich gehöre doch zu ihnen!« – »Ich habe Angst im Dunkeln und vor dem Einschlafen, weil dann diese schrecklichen Träume wiederkommen.« – »Dauernd muss ich an den Kumpel denken, den wir liegen lassen mussten. Hätten wir ihn nicht doch retten können?«
Es dauerte nicht lange, bis auch der bittere Satz fiel: »Es wäre leichter für uns, auch tot zu sein, als all das jetzt ertragen zu müssen!«
Dieser Satz stand in völligem Widerspruch zu den Erwartungen ihrer Angehörigen und der Öffentlichkeit, sie müssten doch froh sein und glücklich, dankbar, es geschafft zu haben.
In der Gruppe versuchten sie, mir ihre Gefühle mit einem Beispiel zu verdeutlichen: »Wenn du mit fünf Freunden in den Wald gehst, und vier werden erschlagen, du kommst als Einziger lebend davon – dann kommt keine Freude auf, dann fühlst du dich nur noch schuldig!«
Bergleute sind ein ganz besonderer Menschenschlag. Sie haben ein sehr großes Zusammengehörigkeitsgefühl, das Wort »Kumpel« drückt viel mehr aus, als im heutigen Sprachgebrauch deutlich wird. Ein Bergmann, der bei dem Grubenunglück durch herumfliegende Trümmer über Tage schwer verletzt worden war und seinen Sohn verloren hatte, erklärte mir seine Gefühle so: »Bei dem Unglück habe ich nicht nur meinen Sohn verloren, sondern auch 51 Brüder!« Wer einen solchen Verlust erleidet, kann sich nicht ohne weiteres darüber freuen, überlebt zu haben. Natürlich waren alle sechs Bergleute froh, gerettet worden zu sein. Aber es konnte kein Glücksgefühl darüber aufkommen. Weil es sich nicht richtig anfühlte – sondern so, als hätten sie nicht länger eine Berechtigung, dazuzugehören. Der größte Teil ihrer eingeschworenen Gemeinschaft war im Berg geblieben.
Da ein solches Empfinden von der Gesellschaft einschließlich der eigenen Familie nur schwer nachvollzogen werden kann, fühlen sich Überlebende in ihrer Problematik häufig unverstanden und wenig unterstützt. Eine längere Zeit bestehende Überlebensschuld kann einen Menschen in eine Sackgasse führen, aus der er keinen Anschluss mehr an ein normales Leben findet. Mit dieser Schuld im Gepäck kann er keine Freude am Leben empfinden, im Grunde macht nichts mehr einen Sinn. Menschen mit einer ausgeprägten Überlebensschuld werden oft schwer depressiv und suizidal. Es ist daher wichtig, dass die Betroffenen eine für sie akzeptable Erklärung finden, warum es so und nicht anders gekommen ist. Eine Erklärung, mit der sie ihren Seelenfrieden wiederfinden können. Die ständige Auseinandersetzung mit der Frage »warum habe ich überlebt und nicht die anderen?« ist letztlich nicht zu beantworten und führt zu einem qualvollen Gedankenkreiseln, das einen nicht zur Ruhe kommen lässt.
Manchmal sind in solchen Situationen die »einfachen« Erklärungen die besten. Als einer der Kumpel überraschend auf eine der Witwen traf – eine Begegnung, der er bis dahin immer aus dem Weg gegangen war –, sagte diese zu ihm: »Ich bin froh, dass es dich noch gibt! Der liebe Gott hatte dich halt noch nicht vorgesehen auf seinem Plan, er wollte dich noch nicht haben! Es ist gut, dass du noch da bist, dann kannst du uns etwas davon erzählen, wie es da unten war und wie unsere Männer gestorben sind.«
Durch diese Begegnung löste sich das Kreisen um einen konkreten und sehr belastenden Gedanken; vermutlich war sie sehr viel heilsamer für die Psyche des Bergmanns als ausgefeilte psychotherapeutische Argumentationen. In der Gruppe der Geretteten führte diese kleine positive Geschichte zu der Einsicht, dass man das eigene Überleben als zweite Chance erkennen kann, aus der auch eine gewisse Verpflichtung entsteht: sich nicht hängen zu lassen, sondern etwas daraus zu machen. Im Gedenken an die umgekommenen Freunde ein gutes Leben zu führen und denen, die
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