Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Schwierigkeiten haben, mit dem Verlust umzugehen, beizustehen und zu helfen. Die sechs geretteten Bergleute aus Borken schafften es mit der Zeit sogar, den jährlichen Gedenktag als ihren zweiten Geburtstag zu sehen – neben aller Trauer um die verlorenen Freunde und der Last des erlittenen eigenen Traumas.
»Ich habe versagt« – Übersteigertes Sich-verantwortlich-Fühlen
Bei einem anderen Industrieunglück war es in einem Chemieunternehmen bei Reinigungsarbeiten zu einer Verpuffung gekommen, bei der mehrere Mitarbeiter durch hochgiftige Gase verätzt worden waren. Ihre Gesundheit war auf Dauer geschädigt, sie waren arbeitsunfähig. Der Vorfall war natürlich Gegenstand ausführlicher staatsanwaltlicher Untersuchungen. Es musste überprüft werden, ob die Sicherheitsbestimmungen eingehalten worden waren, ob das Alarmsystem ordnungsgemäß funktionierte, Schutzanzüge ausgegeben und Fluchtwege zugänglich waren und vieles mehr. Ein Mann stand dabei im Zentrum dieser Untersuchungen: der Sicherheitsingenieur des Unternehmens. Er musste Unterlagen beibringen und zu allen Fragen Rede und Antwort stehen. Die Untersuchungen dauerten ein Jahr, die Ergebnisse wurden mit großer Spannung erwartet.
Offensichtlich ist es ein menschliches Bedürfnis, nach Katastrophen und Unglücken einen Schuldigen zu finden. Das hat sicherlich damit zu tun, dass viele Menschen glauben, es werde ihnen besser gehen, wenn man jemanden für das Desaster verantwortlich machen, sozusagen das gesamte Leid auf eine Person abladen kann. Vielleicht ist es auch eine Art Versuch, im Nachhinein Kontrolle über die außer Kontrolle geratene Situation zu gewinnen. Denn wenn man sagen kann, Person XY war schuld, er hat einen Fehler gemacht, hat versagt, ist das Ereignis besser erklärbar – und eine unserer Grundannahmen über das Leben nicht völlig ausgehebelt. Aus psychologischer Sicht ist es jedoch ein Trugschluss zu glauben, es gehe einem besser, wenn ein vermeintlich Schuldiger für sein »Versagen« bestraft wird. Durch einen solchen Akt kann eine Traumatisierung nicht aufgehoben werden.
Die Staatsanwaltschaft kam nach langen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass alle Sicherheitsvorkehrungen eingehalten worden waren. Duch eine Verkettung unglücklicher Umstände, die nicht vorhersehbar waren, war es zu diesem schrecklichen Unglück gekommen. Die Untersuchungen wurden eingestellt. Eine Tatsache, die für viele Angehörige wie ein Schlag ins Gesicht war. Ihre Liebsten waren schwer verletzt worden und blieben dadurch ihr Leben lang gezeichnet und keiner wurde dafür zur Verantwortung gezogen? Es schien, als sei nur eine Person zunächst erleichtert über dieses Untersuchungsergebnis – der Sicherheitsingenieur. Doch trotz der offiziellen Absolution nagten Zweifel an ihm, ob wirklich alles getan worden war, um das Unglück zu vermeiden. Ich ging mit ihm in Gesprächen alle Details durch, ohne dass er ein Versäumnis feststellen konnte. Dennoch kam er nicht zur Ruhe. Er grämte sich, dass in seiner Ära als Verantwortlicher für die Sicherheit ein solch schreckliches Unglück geschehen war. Er beschäftigte sich Tag und Nacht mit diesem Thema, er geriet unter einen regelrechten Grübelzwang, baute psychisch und körperlich immer mehr ab. Einige Monate nach dem Unglück stellte man bei ihm eine Krebserkrankung fest und er wurde operiert. Ich besuchte ihn im Krankenhaus, wo er nur über seine Schuldgefühle sprach. Desgleichen nach seiner Entlassung. Er kreiste nur um die Themen Verantwortung und Versagen, obwohl es dafür keinerlei objektive Gründe gab.
Wenige Monate später wurde er wieder ins Krankenhaus eingeliefert und erneut operiert. Mein Besuch bei ihm sollte unser letztes Gespräch sein. Er sagte wörtlich zu mir: »Ich kann mit dieser Schuld nicht leben.« Kurz darauf starb er. Die Last der Verantwortung war zu schwer für ihn geworden, auch wenn die Faktenlage ihn entlastet hatte.
Immer wieder geschehen Unglücke, obwohl die Verantwortlichen alles getan und nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben. Dennoch ist es zur Katastrophe gekommen. In solchen Situationen ist es wichtig zu erkennen, dass wir eben nicht alles unter Kontrolle haben, dass schlimme Dinge passieren, obwohl wir alles dafür getan haben, dass sie nicht passieren. Das müssen wir anerkennen und nachsichtig mit uns selbst sein. Wir dürfen uns nicht dauernd anklagen und geißeln für etwas, das wir nicht beeinflussen konnten. Man muss Milde mit sich selbst walten
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