Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Verarbeitungsprozesse, die sozusagen in der rechten Hirnhälfte (im emotionalen Zentrum) stecken geblieben sind, an andere Hirnzentren »weitergegeben« werden, die dann bei der Verarbeitung helfen. Keine andere der gängigen Therapiemethoden ist nach meiner Erfahrung so gut in der Lage, unsere Selbstheilungskräfte und die Überlebenskräfte von Traumatisierten so wirkungsvoll und nachhaltig zu aktivieren wie EMDR . Die Erfolge dieser Methode lassen sich auch durch bildgebende Verfahren auf beeindruckende Weise belegen. Vor der Behandlung eines Betroffenen sieht man starke Aktivitäten im emotionalen Zentrum des Gehirns und kaum welche in den übergeordneten Gehirnarealen, die für analytisches und logisches Denken zuständig sind. Nach einer erfolgreichen Behandlung mit EMDR ändert sich das Bild: Neben dem emotionalen Zentrum sind nun auch die übergeordneten Hirnareale aktiv, sie unterstützen den Verarbeitungsprozess. Hirnforscher sprechen hier vom Entstehen neuer synaptischer Verbindungen im Gehirn.
Der Elefant mit dem rosa Rüssel
Diese spezielle Methode in der Behandlung von Traumapatienten ist vor allem in den folgenden drei Bereichen wirksam: Zunächst einmal hilft sie, intrusive Bilder zu neutralisieren. Die meisten Betroffenen haben lange versucht, die überfallartig erscheinenden Szenen aus ihrem Kopf zu verbannen – ohne Erfolg. Ein Phänomen, das wir letztlich alle kennen. Wenn ich zu Ihnen sage: »Lassen Sie uns ein kleines Experiment machen. Sie dürfen jetzt alles denken, was Sie wollen, nur an eine Sache dürfen Sie auf gar keinen Fall denken. Denken Sie nicht an einen weißen Elefanten mit rosa Rüssel und Augen, die wie Edelsteine funkeln!«
In dem Moment, in dem Sie sich sagen: »Jetzt aber bloß nicht an diesen Elefanten denken!«, haben sie dessen Bild bereits vor Augen. Das Gleiche geschieht mit intrusiven Bildern. In dem verzweifelten Bemühen, keinesfalls daran denken zu wollen, arbeiten wir unbewusst daran, dass diese Bilder uns sogar noch häufiger überfallen. In gewisser Weise eine andere Art der Vermeidungshaltung, die auf uns zurückschlägt.
Während der EMDR -Sitzung stellen viele Betroffene fest, dass das belastende Bild zum Beispiel farblich immer blasser wird, kleiner und undeutlicher, bis es schließlich nur noch die Größe einer Briefmarke hat oder ganz verschwindet. Aber wie kann das sein? Um diesen Prozess zu verstehen, betrachten wir noch einmal die Mutter, deren Kind beim Sturz vom Balkon ums Leben gekommen ist. Der Therapeut fordert die Patientin auf, sich auf ein Bild zu konzentrieren, das für sie den schlimmsten Moment der traumatischen Erfahrung markiert. Sie sagt: »Ich stehe auf dem Balkon und sehe ihn unten auf dem Boden liegen.« Nun soll sie einen negativen Gedanken über sich selbst formulieren, der im Zusammenhang mit diesem Bild steht: »Ich bin schuld! Ich habe versagt!« Anschließend soll sie einen entsprechenden Wunschgedanken formulieren: »Ich habe alles getan, was ich tun konnte.«
Für die Mutter ist dieses klare Benennen dieser beiden Extrempositionen so, als würde sie sich in das Auge eines Taifuns begeben. Sie hat ihr Innerstes offengelegt und steht in engem Kontakt mit ihren Gefühlen. Der Therapeut fordert sie nun auf, sich auf das Ausgangsbild, die damit verbundenen negativen Gedanken und ihre Gefühle zu konzentrieren. Dann hebt er seine Hand, bewegt sie hin und her, und fordert die Patientin auf, den Fingern mit den Augen zu folgen. Der Therapeut hält immer wieder inne und fragt, was die Betroffene nun wahrnimmt. Ob sich etwas verändert und wenn ja, was. Oft werden Szenen aus dem erlebten Trauma nochmals durchlebt, wobei viele überraschende Assoziationen auftauchen können. Im EMDR spricht man dabei von »Kanälen«, die alle irgendwie mit dem Trauma zusammenhängen: Das können mit dem Trauma verbundene andere Lebensereignisse sein, frühere Schockerlebnisse, eigene Lebenserfahrungen oder allgemeine Lebensweisheiten, die einem bei der Verarbeitung des jetzigen Problems behilflich sein können. Welche Kanäle bei einer Sitzung auftauchen, hängt vom Patienten selbst ab, dessen »System« steuert diese Entwicklung. Das Faszinierende ist jedoch, dass am Ende eines manchmal sehr quälenden Prozesses bei den meisten Patienten ein Gefühl entsteht, die Situation meistern zu können.
Bei der Mutter führte der Weg in den EMDR -Sitzungen durch die verschiedenen Stationen des Unglückstages. Schrittweise bis hin zu dem Moment, als sie noch
Weitere Kostenlose Bücher