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Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Pieper
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Wahrscheinlich blutet er doch schlimmer, er lässt das Blut ja schon in die Spüle tropfen.
    Kevin dreht sich um zu mir. Ich kann sein Gesicht sehen. Er guckt so entschlossen, sein Gesicht wirkt verzerrt.
    Ich bleibe aus meiner Bewegung heraus stehen. Fühle mich wie gelähmt. Was passiert hier?
    Kevin ruft: »Du Bitch!« und »schlägt« mir in meinen Bauch. Ich fühle ein warmes, mich durchflutende, angenehmes Gefühl und zugleich den Druck des »Faustschlages«. Ich fasse mit beiden Händen an meinen Bauch. Langsam gehe ich ein paar Schritte. Ich spüre jemanden in meiner Nähe. Ich sage etwas, aber ich kann meine eigene Stimme nicht hören. Ich blicke zu dem Fenster, sehe die Esstischlampe. Ich fühle mich schwach. Es fühlt sich an, als wäre ich lange Zeit auf einem Laufband gelaufen und plötzlich bleibt das Band stehen.
    Fredi und Tom reagieren sofort. Sie laufen zu den Nachbarn, die den Notruf betätigen und dann weiter zu Wulf.
    Als Wulf in der Gruppe eintrifft, ist der Notarzt schon da. Mein Bauch ist völlig gebläht von dem Blut, welches in den Bauchraum fließt. Ich blute aus dem Mund, den Ohren, den Augen. Der Notarzt kämpft fast eine Stunde lang um mein Überleben beziehungsweise um meinen Zustand irgendwie zu stabilisieren, um überhaupt transportiert werden zu können.
    Nach einer weiteren halben Stunde komme ich im Klinikum an. Die Pupillen sind verengt, ein Puls nicht mehr fühlbar. Ärzte schätzen die Überlebenswahrscheinlichkeit auf 5 Prozent.
    Das erste Mal bewusst wache ich auf der Intensivstation auf, mein Mann ist bei mir.
    Eine richtige Erinnerung habe ich ab der Zeit auf der Station. Ich darf in einem Einzelzimmer liegen. Überall sind Blumen, Bilder, Karten, Briefe, Fotos.
    Aus den späteren Erzählungen wird mir erst nach und nach bewusst, dass ich viele Schutzengel hatte, die mir beigestanden haben!«
    Aus diesem Drehbuch wird deutlich, wie man ein sehr komplexes Geschehen komprimiert zusammenfassen kann, ohne dabei wichtige Belastungen zu vermeiden. Da sie aufgrund ihrer Bewusstlosigkeit nach dem Messerstich den weiteren Verlauf nicht wissen konnte, wurden diese Details von den anderen Jugendlichen, Teammitgliedern, Nachbarn und dem Notarzt erfragt. Das ist wichtig, denn sonst bleibt die Geschichte eine »offene Gestalt«. In diesem Fall also eine Geschichte mit Lücken und ohne Schluss.
    Nachdem wir uns das Traumadrehbuch viele Male gegenseitig vorgelesen hatten, fragte ich die Erzieherin, wie es ihr gehe. Sie antwortete: »Gut!« Auf meine Nachfrage, wie es ihr gut gehen könne, wo wir uns doch mit so etwas Schrecklichem befassten, sagte sie verblüffend einfach: »Man gewöhnt sich daran!«
    Damit traf sie den Nagel genau auf den Kopf. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, auch an schreckliche Dinge können wir uns gewöhnen. Und das Schreckliche büßt in dem Maß an Macht ein, in dem wir nicht länger die Augen davor verschließen, sondern uns ihm zuwenden.
Mutmacher 11
    Aus diesen Erfahrungen kann jeder von uns etwas lernen. Es muss nicht ein Trauma sein, wie die eben geschilderten, es kann sich auch um ein ganz alltägliches Problem handeln. Wenn wir in einer Situation an unsere Grenzen kommen, hilft es, die Schwierigkeiten zu benennen und aufzuschreiben. Beginnen Sie die Geschichte an einem Punkt, als alles noch normal war (Weg zur Arbeit, Gang ins Büro usw.), fahren Sie anschließend fort, alle belastenden Punkte zu beschreiben (etwa die heftige Auseinandersetzung mit Kollegen oder dem Chef während einer Sitzung), und enden Sie an der Stelle, an der Sie »wieder in Sicherheit« waren (zurück im eigenen Büro, zuhause). Das Aufschreiben bringt Distanz, Sie können Ihre eigenen Reaktionen und die der Kollegen nüchterner betrachten und auf eventuelles Fehlverhalten überprüfen. Der distanzierte Blick auf das Geschehen ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Sie den Vorfall sachlich noch einmal aufrollen können.
    Stimulation unserer Gehirnhälften
    Es gibt ein spezielles traumatherapeutisches Verfahren, auf das ich an dieser Stelle kurz eingehen möchte. Es hilft, sich aus der depressiven Schleife zu befreien, die Fixierung auf ein bestimmtes, mit dem Trauma verbundenes Bild oder Ereignis Schritt für Schritt zu reduzieren. Die Methode, die von der amerikanischen Psychologin Francine Shapiro entwickelt wurde, heißt Eye-Movement-Desensitization-and-Reprocessing ( EMDR ) und beruht auf einer wechselseitigen Stimulation beider Gehirnhälften. Über Augenbewegungen sollen

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