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Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Pieper
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einmal durchlebte, wie ihr Kind in ihren Armen verstarb und sie den verzweifelten Impuls verspürte: »Ich will mit ihm gehen! Ich will nicht mehr leben!« Diesen Augenblick tiefster Verzweiflung vor Augen, drängten plötzlich andere Bilder nach oben. Von einem schweren Erdbeben in der Türkei und einer verzweifelten Mutter, die ihr totes Kind im Arm hielt. Noch mehr Schmerz, aber auch die Gewissheit, nicht allein mit einem solchen Schicksal in der Welt zu stehen. Dieses Bild schob sich vor das andere und führte zu der Einsicht, dass sie loslassen muss, um ihrem Kind den Übergang in Gottes Hände nicht unnötig schwer zu machen. Dass es solche traurigen Dinge gibt, dass der Tod ein Teil des Lebens ist und dass sie die Kraft hat, diesen Tatsachen ins Auge zu sehen. Und mehr noch: Dass sie die Kraft hat, mit diesem Schicksal weiterzuleben und sich zu sagen: »Ich habe alles getan – aber es war offenbar der Weg, den mein Kind gehen musste.«
    Zwei Säcke wiegen schwerer als einer
    Außerdem hilft die Methode dabei, Verbindungen des Traumas zu anderen Lebensereignissen aufzuzeigen. Wenn das Geschehene an frühere belastende Begebenheiten erinnert, hängt am aktuell Erlebten dann noch eine »Blase« mit unverarbeiteten Gefühlen. Zusammen wiegt alles doppelt und dreifach schwer. Die Verbindung zu dieser früheren Lebensbelastung ist vielen Menschen nicht bewusst; sie spüren nur, dass sie die Bürde nicht tragen können, möchten nur noch weg – und reagieren mit noch ausgeprägteren Vermeidungstendenzen. Wenn wir diese Verbindung zu einem früheren Trauma bewusst machen können, kann man daran arbeiten, sie zu kappen und bewusst erst an das eine und dann an das andere Problem heranzugehen. Es ist in etwa so, als wollten wir zwei Zementsäcke aus unserem Auto holen – eine Verkaufsstrategie des Baumarkts, die beiden Säcke gab es nur im Doppelpack. Wenn wir versuchen, sie auf einmal in die Garage zu schleppen, werden wir zu Boden gehen. Wenn wir aber das Klebeband lösen und erst den einen, anschließend den anderen Sack aus dem Wagen heben, ist die Last deutlich verringert.
    Dazu ein kurzes Beispiel aus meiner Arbeit mit Lehrern, die die Tötung von Kollegen bei Amokläufen in Schulen miterleben mussten. Eine der Lehrerinnen litt unter schlimmen Schuldgefühlen, ihrer Kollegin im Ringen mit dem Tod nicht beigestanden zu haben. Wie unter Schock habe sie reglos neben der Sterbenden gestanden, ihr nicht einmal die Hand gehalten. Die Selbstvorwürfe, ihre Kollegin alleingelassen zu haben, und die immer wiederkehrenden schrecklichen Bilder machten ihr das Leben unerträglich.
    Ausgehend von dem Bild – sie steht im Flur neben der abgedeckten Leiche ihrer Kollegin – entwickelte sich während der EMDR -Sitzung eine neue Szene. Die Lehrerin erinnerte sich plötzlich an einen Anruf, der zwölf Jahre zurücklag. Ihr Vater hatte sie damals gebeten, schnell zu kommen, die Mutter liege im Sterben. Sie war zu ihrem Auto geeilt, das jedoch nicht ansprang, weil die Batterie leer war; sie hatte am Abend vorher vergessen, das Licht auszuschalten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie eine andere Fahrmöglichkeit aufgetan hatte. Als sie endlich beim Haus der Eltern ankam, war es zu spät. Die Mutter war bereits verstorben. Sie machte sich endlose Vorwürfe, weder der Sterbenden noch dem Vater in dieser schweren Stunde beigestanden zu haben. Und das alles wegen einer dummen Unachtsamkeit. Aus ihrer Sicht hatte sie einen schweren Fehler begangen und Schuld auf sich geladen.
    Diese ganze Geschichte hing gefühlsmäßig mit dem Erlebnis der getöteten Kollegin auf dem Schulflur zusammen und machte das ohnehin schwere aktuelle Trauma für sie noch gewaltiger und unerträglicher, auch wenn sie sich dieses Zusammenhangs nicht bewusst gewesen war. Ihre in der Schule empfundenen unbegründeten Schuldgefühle, zu spät gekommen zu sein, der Kollegin nicht beigestanden zu haben, resultierten aus der Erfahrung des selbst verschuldeten zu späten Kommens beim Tod der Mutter. Das Entkoppeln dieser beiden Lebensereignisse machte es der Lehrerin deutlich leichter, ihr aktuelles Trauma zu verarbeiten.
    An solche mit dem neuen Trauma verknüpfte frühere Belastungen kommt man nach meiner Erfahrung mit rein sprachlichen psychotherapeutischen Methoden viel schwerer und langsamer heran, manchmal auch überhaupt nicht. Mit EMDR ergeben sich solche Verknüpfungen sozusagen wie von alleine.
    »Ich habe es getan!«
    Wie jene Lehrerin leiden viele Menschen

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