Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
nach traumatischen Erlebnissen unter dem Gefühl, etwas versäumt oder unterlassen zu haben. Sie werfen sich vor, nicht so oder so reagiert zu haben; hätten sie dieses oder jenes getan, wäre alles nicht so schlimm verlaufen, oder das Ganze wäre vielleicht gar nicht erst passiert. Möglicherweise entsteht diese Haltung aus dem unerträglichen Gefühl heraus, vollkommen die Kontrolle verloren zu haben; daher könnte man das Entstehen dieser Haltung auch als den verzweifelten Versuch verstehen, die Kontrolle zurückzugewinnen. Denn hätte man tatsächlich die Wahl gehabt, sich in der Situation anders zu verhalten, hätte dies nichts anderes bedeutet, als dass man die Kontrolle noch gehabt hätte.
Manchmal werden die Betroffenen mit solchen Vorwürfen auch durch ihre Mitmenschen konfrontiert – wie ein Jugendlicher, der einen Mordanschlag eines Mannes auf seine Ex-Geliebte, mit der der Jugendliche auch selbst bekannt war, in einer Disco erlebt hatte. Da er einer der Größten und Stärksten seiner Gruppe war, meinten einige seiner Freunde, er hätte eingreifen, den Täter wegziehen oder irgendetwas tun müssen. Er selbst machte sich ähnliche Vorwürfe, konnte nicht verstehen, warum er in der Situation vollkommen gelähmt und handlungsunfähig gewesen war. Durch diese Doppelbelastung geriet er psychisch so stark unter Druck, dass er depressiv wurde und sogar autoaggressive und suizidale Gedanken entwickelte.
In der EMDR -Behandlung durchlebte er die Situation in der Disco kurz vor dem Mord noch einmal in allen Einzelheiten. Er sah sich neben seinem Freund auf einer Couch sitzen und schaute seiner Bekannten beim Tanzen zu. Plötzlich stürmte eine ganz in schwarz gekleidete Person schnellen Schrittes auf die Tanzfläche. Die Person hielt in der hoch erhobenen Hand ein Messer und lief zielstrebig auf die junge Frau zu. Diese rief noch: »Was soll denn das jetzt!?«, als der Täter mit Wucht zustach.
Genau in diesem Moment der EMDR -Behandlung entstand in dem Jugendlichen der Wunsch, etwas zu tun. Auf meine Frage hin, was er denn gerne tun würde, antwortete er: »Ich würde ihm (dem Täter) am liebsten einen Stuhl ins Kreuz werfen!« Ich forderte ihn auf, dies während des nächsten Sets von Augenbewegungen auszuprobieren. Er stellte sich also vor, wie er dem Täter tatsächlich einen Stuhl in den Rücken schleuderte, dieser daraufhin zu Boden ging und von ihm und einigen Freunden überwältigt wurde. In seiner Phantasie hatte er den Mord an seiner Bekannten verhindert.
Am Ende der EMDR -Sitzung war der junge Mann voller Energie, er strahlte, verließ das Zimmer wie ein Sieger und sagte triumphierend: »Ich habe es getan!« In der Folgezeit wurde er deutlich aktiver, seine schulischen Leistungen stabilisierten sich, depressive und suizidale Gedanken nahmen ab. Er benahm sich so, als hätte er das alles nicht nur in der Phantasie durchlebt, sondern wirklich getan. Und eben hierin liegt die dritte Stärke dieser Behandlungsmethode. Die intensive Vorstellung etwas zu tun, was man vorher nicht hatte tun können, scheint eine befreiende Wirkung zu haben.
Auch die Lehrerin aus dem vorangegangenen Beispiel profitierte übrigens von diesem Phänomen. Imaginativ ging sie während der EMDR -Behandlung zu ihrer sterbenden Kollegin, hielt ihr die Hand, begleitete sie beim Übergang in den Tod und bereitete ihr eine würdigere Ruhestätte als die des kalten Steinfußbodens im Schulflur. Diese Imaginationen hatten etwas sehr Tröstliches, Beruhigendes und Heilsames für sie.
EMDR ist ein hoch wirksames therapeutisches Verfahren, jedoch kein Allheilmittel. Wird es indes als ein Baustein innerhalb eines therapeutischen Gesamtkonzepts eingesetzt, ist diese Methode oft der entscheidende Schritt bei der Bewältigung traumatischer Erlebnisse.
Mutmacher 12
Wenn Sie an den Folgen eines Traumas leiden und Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung auf weisen, begeben Sie sich in eine qualifizierte traumatherapeutische Behandlung bei einem psychologischen Psychotherapeuten, der an den hier beschriebenen Prinzipien orientiert ist. Diese sollte konfrontativ-verhaltenstherapeutisch ausgerichtet und mit EMDR kombiniert sein. Der Therapeut sollte eine entsprechende Ausbildung und eine Kassenzulassung haben; vor allem aber sollte er Erfahrung in der Therapie von Traumastörungen haben. Fragen Sie ihn bei der Anmeldung danach. Entscheiden Sie spätestens nach der fünften Sitzung, ob Sie sich gut aufgehoben fühlen. Wenn nicht,
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