Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
für die Heilungs- und Wandlungsfähigkeit junger Menschen erlebte ich durch meine Begegnung mit Mary, einem 16-jährigen afrikanischen Mädchen. Mary hatte in ihrem Heimatland in Afrika eine Serie von unglaublichen Traumatisierungen erlebt. Sie wohnte in ärmlichen, aber geordneten Verhältnissen mit ihren Eltern in einer kleinen Hütte auf dem Land und besuchte die Schule im Nachbardorf. Das friedliche Leben der Gemeinschaft wurde von einer Gruppe Krimineller bedroht. Die Männer terrorisierten die Menschen in Mafia-Manier durch Brandschatzung, körperliche Gewalt und schreckten auch vor Entführungen und Mord nicht zurück. Marys Eltern waren eine Zeit lang mit Einigen dieser Gruppe befreundet gewesen, wollten aber dann nichts mehr mit ihnen zu tun haben.
Als Mary eines Tages von der Schule nach Hause kam, sah sie schon von weitem viele Dorfbewohner weinend und klagend vor der Hütte ihrer Eltern stehen. Als sie dort ankam, erfuhr sie, dass Mutter und Vater bestialisch ermordet worden waren. Das völlig verzweifelte Mädchen zog zu seiner Großmutter, die fortan für sie sorgte. Eines Tages wurde Mary auf dem Weg nach Hause von Mitgliedern der Gruppe abgepasst und mehrfach vergewaltigt; Wochen später wurde das Haus ihrer Großmutter niedergebrannt, die Großmutter selbst verschleppt. Mary hat sie nie wiedergesehen. Das Mädchen wurde nach der Vergewaltigung schwanger, Freunde der Familie sammelten Geld und schickten sie mit einem Fluchthelfer nach Deutschland. Dort wurde sie in ein Kinder- und Jugendheim aufgenommen, in dem es eine Mutter-Kind-Gruppe gab. Sie lernte Deutsch und konnte sich in einer sicheren Umgebung auf die Geburt des Kindes vorbereiten. Schon wenige Wochen nach der Geburt wurde sie als Schülerin an einer Hauptschule angenommen.
Obwohl Mary die denkbar schlechtesten Voraussetzungen hatte, um in einer fremden Kultur Fuß zu fassen – multipel traumatisiert, ihre drei wichtigsten Bezugspersonen tot oder verschleppt, vergewaltigt, ungewollt schwanger, aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und in ein fremdes Land gebracht –, entwickelte sie eine Einstellung, die es ihr ermöglichte, alle Hilfsangebote (unter anderem konsequente und liebevolle Begleitung durch die Mutter-Kind-Gruppe sowie meine psychotherapeutische Behandlung) für sich zu nutzen und eine beispiellos positive Entwicklung zu nehmen. Sie fasste schnell Fuß in ihrer neuen Schulklasse und erfuhr Selbstbestätigung durch gute Leistungen, vor allem in den nicht-sprachlichen Fächern. Sie schloss die Schule mit so guten Noten ab, dass man ihr vorschlug, sich an den Realschulabschluss zu wagen. Und während eines 14-tägigen Praktikums in einer Gärtnerei vermittelte sie ein so positives Bild von sich, dass der Besitzer ihr sofort eine Ausbildungsstelle anbot.
Natürlich waren die Schmerzen und die Trauer über die schrecklichen Ereignisse in ihrem Heimatland nicht von heute auf morgen in Deutschland ausgeschaltet. Aber sie schaffte es im Rahmen der Therapie, das Geschehen aufzuarbeiten, sich davon zu befreien und sich so auf die vielen neuen Anforderungen in ihrem Leben als junge Mutter in Deutschland einlassen zu können.
Eine zentrale Rolle bei dieser Aufarbeitung spielte die Erstellung eines sogenannten Trauma-Narrativs. Das bedeutet, Mary musste ihre schlimme Geschichte in Worte fassen und zusätzlich zum Therapeuten eine weitere Person ihres Vertrauens an allen Details dieses Erlebens teilhaben lassen. Ein solches Trauma-Narrativ soll gewährleisten, dass Erlebnisse nicht verdrängt werden; gleichzeitig soll der Betroffene das Gefühl bekommen, dass er mit seinem Leid nicht allein ist. Marys Trauma-Narrativ sollte die Überschrift »Lebensgeschichte« tragen. Dieser Titel war ganz bewusst gewählt: Mary sollte deutlich gemacht werden, dass ihre traumatischen Erfahrungen genauso zu ihrem Leben gehören wie ihre positiven Erinnerungen und all das, was sie als Person charakterisiert (bestimmte Eigenschaften, Hobbies und so weiter). Die Geschichte beginnt an dem Punkt in ihrem Leben, als noch Normalität herrschte, konzentriert sich dann auf die traumatischen Erlebnisse und endet in der heutigen Wirklichkeit.
Über das Leben vor den traumatisierenden Ereignissen schrieb sie unter anderem:
Ich war das einzige Kind von Familie Kulani. Ich habe gelebt mit mein Mutter und mein Vater. Ich habe sehr viel meine Eltern geliebt. Aber das Leben war nicht leicht, es war sehr schwer, aber Gott war immer mit mir. (…) Ich musste nach der
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