Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Katastrophen auch heute noch bedeutet. Heraklit entwickelte die Lehre vom Fluss aller Dinge, die man zusammenfassen kann in dem Satz: »Panta rhei – Alles bewegt sich fort und nichts bleibt.«
Es geht darum, nicht nur zu er kennen, sondern anzuerkennen , dass sich alles immer weiterentwickelt und dass wir selbst uns dabei auch immer weiterverändern. Heraklit sagte: »Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.« Wenn wir an Dingen festhalten, die nicht mehr da sind oder sich gewandelt haben, wenn wir versuchen, genauso zu bleiben, wie wir unter anderen Lebensbedingungen gewesen waren, missachten wir das Gesetz der permanenten Veränderung, der fließenden Entwicklung. Dann stimmt unsere subjektive, psychische Empfindung nicht mehr mit der äußeren Welt überein. Und das erzeugt eine immer größere Spannung, an der wir letztlich zerbrechen werden. Diese Diskrepanz bedeutet psychisches Leiden, das zu Erkrankungen wie Depressionen, Angstzuständen oder psychosomatischen Beschwerden führen kann.
Kinder tun sich offensichtlich leichter damit, veränderte Bedingungen in ihrem Leben zu akzeptieren, sie sind anpassungsbereiter und -fähiger. Und eben das ist es, was wir aus einem Fall wie dem von Mary lernen können: Der Mensch ist in seiner langen Evolutionsgeschichte ein so außerordentlich anpassungsfähiges Wesen geworden, dass er auch extreme Umstellungen bewältigen kann und in der Lage ist, sich auf vollkommen veränderte Bedingungen einzustellen. Er kann in diesen Situationen nicht nur überleben, sondern auf eine andere Weise als früher auch wieder erfolgreich und glücklich leben.
Mutmacher 14
Wenn Sie von schweren Schicksalsschlägen getroffen wurden, schreiben Sie Ihre Erlebnisse auf. Durch das Erstellen einer schriftlichen Version ihrer traumatischen Erlebnisse haben Sie eine viel bessere Chance, das Erlebte als Teil ihres Lebens zu akzeptieren und zu integrieren. Außerdem können Sie aktiv mit der aufgeschriebenen Geschichte umgehen: Sie können sie sorgsam wegschließen, Sie können sie wieder hervorholen, wenn Sie es wünschen, und auch eine weitere Person an dem erlebten Leid teilhaben lassen.
Malen Sie ein Bild von einem großen breiten Fluss, Ihrem Lebensfluss, der immer da, wo er nicht ungehindert weiterfließen konnte, einen neuen Weg gefunden hat. Stellen Sie sich vor, wie dieser Fluss auf seinem Weg in der Lage ist, Hindernisse zu umfließen, Klippen hinabzustürzen, mal schnell, mal ruhig zu fließen, um schlussendlich in einem ruhigen breiten Strom im Meer zu münden.
15. Wenn Katastrophen eine ganze Gesellschaft erfassen
Große Katastrophen treffen zunächst immer viele einzelne Menschen, von denen jeder sein spezifisches Leid, sein individuelles Trauma zu tragen hat. Das öffentliche Interesse am Schicksal der Betroffenen ist zunächst sehr groß. Alle wollen wissen, was genau passiert ist und welche Gesichter und Geschichten sich hinter den anonymen Opferzahlen verbergen. Die Vertreter der Medien sind schnell vor Ort, um das Leid der Betroffenen möglichst live in die Wohnzimmer der Bevölkerung zu transportieren. Dabei werden häufig Grenzen überschritten, die für die Betroffenen schmerzlich sind und sie erneut zu Opfern machen. In der Regel dauert es nicht lange, bis sich Medien und Öffentlichkeit wieder einem anderen Thema widmen. Alle Schlagzeilen wurden formuliert, die Bilder mehrfach ausgestrahlt, die Anfangsbetroffenheit weicht einer »Es-muss-ja-weitergehen-Haltung«. Hinterbliebene und Überlebende werden allein gelassen, fühlen den Druck, möglichst schnell wieder funktionieren zu müssen. Die Haltung, mit der eine Gemeinschaft oder eine Gesellschaft auf eine Großkatastrophe reagiert, beeinflusst so auch immer die Chancen des Einzelnen, ein Trauma zu überwinden – oder darin stecken zu bleiben.
Ein Beispiel, das diese Wechselwirkung auf negative Weise deutlich macht, möchte ich im Folgenden schildern.
Kurz vor dem Unglück von Borken hatte ein Journalist in der »Zeit« einen Artikel veröffentlicht, in dem er die Auswirkungen eines Eisenbahnunglücks auf die Bewohner von Radevormwald beschrieb. Bei der Kollision zweier Züge im Ortsteil Dahlerau waren 1971 41 Schüler und fünf Erwachsene getötet worden, die Gemeinschaft war zutiefst geschockt. Seit dem Unglück waren 17 Jahre vergangen; bei seinen Recherchen stellte der Journalist fest, dass das Gemeinwesen extremen Schaden genommen hatte. Die Betroffenen waren
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