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Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Pieper
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weder unmittelbar nach der Katastrophe psychologisch betreut worden noch hatte es eine psychosoziale Nachversorgung gegeben. Die Menschen hatten sich trotz des gemeinsamen Leids entzweit und entfremdet. Neid und Missgunst waren die vorherrschenden Stimmungen im Ort, da die Familien unterschiedliche Entschädigungs- und Schmerzensgeldzahlungen erhalten hatten. Man hatte nie gemeinsam oder gar von Psychologen angeleitet über das Unglück gesprochen, die Familien waren in ihrer Trauer und Verzweiflung allein geblieben.
    Über den Einzelnen hinaus ist bei einer solchen Katastrophe immer auch eine Gemeinschaft von Menschen – in diesem Fall eine Dorfgemeinschaft – betroffen. Man spricht in solchen Fällen von einem »kollektiven Trauma«. In Radevormwald war die Gemeinde ganz offensichtlich genau an dem Punkt stehen geblieben, an dem Schock und Lähmung vorherrschen, Sprachlosigkeit, Entsetzen und die Unfähigkeit, das entstandene Leid in Worte zu fassen. In einer solchen Situation sind auch den Möglichkeiten des Einzelnen, das Geschehen aufzuarbeiten, enge Grenzen gesetzt. Denn die gesellschaftliche Botschaft lautet: Es ist dein individuelles Schicksal, rede nicht öffentlich darüber, mit uns hat das Ganze nichts zu tun! Der Einzelne ist mit seinem Schicksal allein gelassen, er fühlt sich verzweifelt und überfordert und wird in seinen ohnehin vorhandenen Vermeidungstendenzen noch bestärkt. Die Konsequenz ist in vielen Fällen ein sozialer Rückzug – und zwar aus dem Gefühl heraus, von niemandem verstanden zu werden. Hätte man die Betroffenen in Radevormwald über einen längeren Zeitraum psychologisch betreut, auch in Gruppen, hätte aus dem Unglück ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erwachsen können. Durch eine Öffnung hin zum eigenen Leid und dem der anderen wären wichtige Weichen dafür gesellt worden, die individuellen Traumata und das kollektive Trauma überwinden zu können.
    Ein positives Gegenbeispiel aus jüngster Zeit ist hingegen der Umgang der norwegischen Gesellschaft mit dem kollektiven Trauma, das die Anschläge von Oslo und das anschließende Massaker auf der Insel Utøya im Sommer 2011 auslösten. Der damals 32-jährige Anders Breivik hatte am 22. Juli unter den Teilnehmern eines sozialdemokratischen Jugendcamps ein Blutbad angerichtet, bei dem 69 Menschen ums Leben kamen. Als Motiv gab er nach seiner Verhaftung an, er habe Norwegen gegen den Islam und den »Kulturmarxismus« der regierenden Sozialdemokraten verteidigen wollen.
    Da ich mit einer Norwegerin verheiratet bin, ein Teil meiner Verwandtschaft in Oslo wohnt und ich dort eine Reihe von Freunden habe, war ich persönlich von diesem schrecklichen Ereignis besonders schockiert. Meine größte Angst war natürlich, dass die Neffen meiner Frau sich im Ferienlager auf Utøya oder in der Nähe der Bombenanschläge im Zentrum von Oslo mit acht Toten befunden haben könnten. Meine Schwiegermutter hatte über zwanzig Jahre in dem nun zerbombten Haus im Regierungsviertel gearbeitet. Der ganze Horror war plötzlich sehr nahe gerückt. Einige Stunden nachdem die Meldungen der Agenturen in alle Welt gesandt worden waren, erhielten wir den erlösenden Anruf: Einer der Neffen meiner Frau berichtete uns, dass er die Explosionen in Oslo zwar gehört habe, aber niemand aus der Familie unmittelbar betroffen oder zu Schaden gekommen war.
    Schon die erste Reaktion des Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg am Abend des 22. Juli war bemerkenswert. Er sagte: »Das wird unsere Demokratie und unser Engagement für eine bessere Welt nicht zerstören. Niemand kann Norwegen zum Schweigen schießen.« Während eines Trauergottesdienstes zwei Tage später bekräftigte er seine Haltung: »Wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.« Im ganzen Land gab es in den folgenden Tagen Solidaritätsbekundungen, Schweigemärsche, Demonstrationen gegen Gewalt. Das Leben in Städten und Dörfern stand minutenlang still, Norwegen gedachte damit nicht nur der Toten, sondern sandte auch ein hoffnungsvolles Zeichen an die Hinterbliebenen.
    Psychologen organisierten Gruppen, in denen sich die Betroffenen austauschen konnten. Trauernde wurden ermutigt, sich zusammenzufinden und gemeinsam auf die Unglücksinsel zu fahren, um dort unter professioneller Begleitung an Ort und Stelle zu begreifen, was geschehen war, und sich innerlich von ihren Liebsten zu verabschieden. Immer wieder wurden sie in ihren

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