Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Pieper
Vom Netzwerk:
Bemühungen bestärkt, nicht nur passive Opfer der schrecklichen Ereignisse zu bleiben, sondern sich zu aktiven Überlebenden zu entwickeln, die sich mit ihrem Leid bewusst auseinandersetzen und nicht innerlich weglaufen. Weitere Angebote von Gesprächsgruppen bestanden für die jugendlichen Augenzeugen und die verschiedenen Gruppen von Hinterbliebenen. Gemeinsam wurden Trauerrituale entwickelt, und sie wurden psychologisch begleitet in der Vorbereitung auf den Prozess gegen den Täter. Ein vorbildliches Engagement meiner norwegischen Kolleginnen und Kollegen auf höchstem fachlichem Niveau.
    Die Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse durch die Jugendlichen, die die unfassbaren Tötungen ihrer Freunde unmittelbar erlebt hatten, und die Trauerarbeit der Eltern, Geschwister, Großeltern, der anderen Verwandten und Freunde der Opfer habe ich indirekt begleitet: Ich arbeite seit einigen Jahren als deutscher Vertreter in einer internationalen Arbeitsgruppe von Psychologen, die die Standards der Versorgung von Katastrophenopfern verbessern möchte. Mein norwegischer Kollege aus dieser Gruppe, der für die Betreuung der Betroffenen verantwortlich war, bat mich, als externer Berater für die norwegischen Kollegen zur Verfügung zu stehen.
    In den Medien war über viele Monate hinweg eine breite Debatte von Wissenschaftlern verschiedenster Richtungen, von Politikern und Privatpersonen über mögliche gesellschaftliche Gründe für die Katastrophe das beherrschende Thema. Durch öffentliche Veranstaltungen wie das gemeinsame Niederlegen von Rosen vor dem Osloer Dom oder das große Open-Air-Konzert zum ersten Jahrestag wurde den Betroffenen immer wieder die wichtige Botschaft übermittelt: Wir sind bei euch, versteckt euch nicht, lasst uns das Leid gemeinsam tragen.
    Alle diese Maßnahmen führten zu einem erstaunlichen Wachstum der Überlebenskräfte der Betroffenen, wie man vor allem während des Prozesses gegen den Täter Breivik erkennen konnte. Viele der Überlebenden, die die schrecklichen Szenen hatten mit ansehen müssen oder die sogar selbst schwere Schussverletzungen davongetragen hatten, mussten im Prozess aussagen. Natürlich war die Konfrontation mit dem Täter im Gerichtssaal sehr aufwühlend und belastend für die Zeugen, ein Wechselbad der Gefühle von Trauer, Wut, Bitterkeit und Hass. Aber viele von ihnen zogen aus dieser Konfrontation eine enorme Stärke: Nur wenige Meter räumlich vom Täter getrennt, erzählten sie von den Hinrichtungsszenen und ihren verzweifelten Versuchen, den Freunden zu helfen oder vor dem Täter zu fliehen. Sie zeigten ihre Narben und blickten dabei dem Täter in die Augen. Das Foto einer jungen Frau in einer norwegischen Tageszeitung, die von Angesicht zu Angesicht aus zwei Metern Entfernung Breiviks Augen fixierte, bringt es auf den Punkt. Ebenso ihre folgende Aussage: Breivik sei nur noch eine Hülle, sie habe nichts Lebendiges in ihm gesehen, er sei psychisch tot. In diesem Moment spürte sie, dass sie stärker war als er und dass es ihr gelingen würde, sich von ihrem Trauma zu befreien.
    Das Gericht legte großen Wert darauf, jeden Augenzeugen anzuhören, es nahm sich viel Zeit für die einzelnen Betroffenen, und selbst jeder Obduktionsbericht wurde verlesen. Mit dieser Art des offenen, schonungslosen und konfrontativen Umgangs mit dem Leid, das der Täter über Einzelne und die Gemeinschaft gebracht hatte, befreite sich Norwegen von diesem kollektiven Trauma.
    Natürlich ist mit diesem Prozess nicht die Trauer der Hinterbliebenen beendet, für die meisten wird sie jahrelang weitergehen. Aber die Betroffenen spüren, dass es möglich und sinnvoll ist, in dieser Gesellschaft weiterzuleben, dass es für sie eine Zukunft gibt. Sie wissen, dass sie unterstützt werden, nicht allein gelassen sind, sondern aufgefangen werden. Darauf können sie aufbauen und Kraft schöpfen für die Trauerarbeit und die Bewältigung des eigenen Leids.
    Am ersten Gedenktag des Massakers erinnerte der norwegische Ministerpräsident in seiner Ansprache an die Trauer der Kinder, wenn sie vor dem Grab der getöteten Mutter oder des getöteten Vaters stehen, an die Verzweiflung der vielen Eltern, die am leeren Bett ihrer Kinder weinen, an all die Geschwister, Großeltern, Verwandten, Freunde und Kollegen, die Wut und Verzweiflung über den Verlust eines lieben Menschen empfunden haben. Daran schloss er einen sehr mutmachenden Satz an: »Das vergangene Jahr hat uns gelehrt, wie kostbar das Leben und wie

Weitere Kostenlose Bücher