Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
zerbrechlich die Lebenslinie ist. (…) Lasst dies das Versprechen sein, das wir einander heute geben: Wir ehren die Toten, indem wir uns am Leben freuen.«
Tatsächlich haben viele norwegische Jugendliche nach der Tragödie von Utøya eine »Jetzt-erst-recht-Mentalität« entwickelt. Sie wollen eine – wie es der Vorsitzende der muslimischen Gemeinde ausdrückte – »gute Gesellschaft noch besser machen«, indem sie sich etwa für die Weiterentwicklung eines toleranten und offenen Umgangs der Religionen, der unterschiedlichen politischen Parteien und ihrer Jugendorganisationen einsetzen. Auch damit zeigen sie, dass sie stärker sind als Breivik und dessen menschenverachtende Theorie; dass sein Plan, Hass und Spaltung zu säen, nicht aufgegangen ist, sondern im Gegenteil die Gesellschaft enger zusammengeführt hat.
Der Ministerpräsident forderte seine Landsleute denn auch auf, die unmittelbar nach dem Anschlag gezeigte Wärme und Empathie weiterhin zum Ausdruck zu bringen. Vor mehr als 100 000 Menschen sprach er den wahrlich therapeutischen Satz: »Heute sollten wir daran erinnern, dass Liebe ewig anhält. Das Gute und die Freude lassen sich nicht auslöschen!«
Durch den Prozess haben nicht nur die Hinterbliebenen, sondern auch die norwegische Gesellschaft das schwere Trauma auf bewunderungswerte Weise hinter sich gelassen. Die Gesellschaft hat mit ihrem Verhalten entscheidende Weichen dafür gestellt, dass die einzelnen Betroffenen die schlimmen Belastungen bewältigen können. Ein Weg, der unterschiedlich lang sein wird, der aber die Überlebenskräfte des Einzelnen stärken wird, weil er sich in der Gemeinschaft verstanden und aufgehoben fühlt.
Das Glück der Erinnerung
Noch lange Zeit nach einem Unglück ist für viele Menschen die Erinnerung daran sehr schmerzhaft. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass es besser wäre, die Spuren der Katastrophe zu eliminieren. Es liegt in der Natur des Menschen, in unserer Vermeidungshaltung, auf »heilsames Vergessen« zu hoffen in dem Glauben, wenn man nur alle Spuren des Unglücks beseitigt, können auch keine alten Wunden aufgerissen werden.
Welche Wirkung dies jedoch auf die meisten Betroffenen und Angehörigen haben kann, wurde mir in Gesprächen mit Hinterbliebenen des Tanklasterunglücks von Herborn klar. Im Hochsommer 1987 war in der kleinen Stadt Herborn im Westerwald ein Tanklastzug in eine Eisdiele gerast, die vor allem Jugendlichen als Treffpunkt diente. Bei dem Feuerinferno kamen sechs Menschen ums Leben, über vierzig wurden zum Teil schwer verletzt. Auch mehrere umliegende Häuser brannten nieder, die Stadt sah aus wie nach einem Bombenangriff. Die Angehörigen der Toten hatten mit den schrecklichen Bildern der Brandkatastrophe schwer zu kämpfen, vor allem die Vorstellung, dass die geliebten Menschen bei lebendigem Leib verbrannt waren, war schier unerträglich. Die Betroffenen taten sich in einer Gruppe zusammen, um die schlimmen Erlebnisse gemeinsam zu verarbeiten. Als besonders schmerzlich empfanden sie, dass nach den Aufräumarbeiten nichts mehr an das Unglück erinnern sollte. Es gab keinen Gedenkstein, keinen Hinweis darauf, dass an dieser Stelle Menschen umgekommen und andere schwer verletzt worden waren. Ein junger Mann, dessen Schwester im Inferno gestorben war, sagte voller Verbitterung und Verzweiflung zu mir: »Das ist eine Schande, nichts soll daran erinnern, dass das Leben meiner Schwester ausgelöscht wurde. Neue Geschäfte werden aufgebaut, die Leute sollen konsumieren und nicht durch die Erinnerung an die Katastrophe davon abgehalten werden. Nicht einmal die Ehre der Erinnerung gibt man ihr!« Für ihn war es, als sei seine Schwester dadurch ein zweites Mal gestorben.
Der sicher oft gut gemeinte Versuch, möglichst rasch wieder »äußere« Normalität herzustellen, heißt für die Betroffenen: Zurück zur Tagesordnung. Indem man nicht darüber redet, keine Gedenktafel oder ein anderes Erinnerungssymbol aufstellt und den Betroffenen keine Möglichkeiten bietet, ihre Erlebnisse gemeinsam aufzuarbeiten, weist man ihnen letztlich die Tür. Hier ist kein Platz für Schmerz und Trauer. Wir als Gesellschaft oder Ortsgemeinschaft wollen uns damit nicht auseinandersetzen. Das für uns Deutsche beschämendste Beispiel in dieser Hinsicht ist wohl die nicht erfolgte Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und der Gräuel der Nazi-Diktatur in den ersten dreißig Jahren nach 1945. Mein Geschichtsunterricht endete noch Anfang der Siebzigerjahre
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