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Überlebensübungen - Erzählung

Überlebensübungen - Erzählung

Titel: Überlebensübungen - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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haben die Gewehre gesehen, die Handgranaten und die Bazookas, die sie »Panzerfaust« nennen.
    Und ich gehörte zu einer dieser mit Bazookas bewaffneten Einheiten, da man dieses Antipanzergerät – einen tragbaren Raketenwerfer – schließlich mit seinem amerikanischen Namen bezeichnen muss.
    Die mit Bazookas bewaffneten Kampfgruppen – Fleck und Tenenbaum entging dieses Detail notgedrungen – waren die zweite Angriffswelle des militärischen Apparats der Buchenwald-Häftlinge, die beauftragt waren, die Wachtürme entlang des elektrischen Stacheldrahtzauns und das gedrungene Gebäude des Lagereingangs unter Kontrolle zu bringen.
    In der ersten, mit Gewehren und Maschinenpistolen bewaffneten Welle befanden sich nur versierte Kämpfer mit eindeutiger Militärerfahrung. Die meisten von ihnen gehörten zu den ehemaligen internationalen Brigaden des Spanischen Bürgerkriegs. Franzosen des 14. Bataillons, unter ihnen mein Kumpel Fernand Barizon. Deutsche des Thälmann-Bataillons, Italiener des Garibaldi-Bataillons. Und so weiter. Was die Polen des Dombrowski-Bataillons betrifft, so begleiteten sie die jungen Maquisards, die sich freiwillig auf die Straßen der Evakuierung begeben hatten.
    Um diesen Kern von Brigadisten gab es Kämpfer aus ganz Europa: Überlebende aus den Glières oder dem Vercors, Überlebende der Guerilla in den Bergen der Slowakei, den Wäldern der Karpaten, den russischen Weiten.
    Die zweite Welle waren wir, die Träger von Bazookas.
    Gewiss, zu Beginn der Operation, als die illegalen Stoßtruppen, an verschiedenen Orten des Lagers konzentriert, die bisher versteckten Waffen in Empfang genommen
hatten; als sie den Befehl erhalten hatten, die Wachtürme zu stürmen – und jede Einheit kannte ihren Weg, ihr Ziel; jeder Kämpfer wusste, wie viele Minuten er brauchte, um das ihm zugewiesene Ziel zu erreichen: alles war minutiös wiederholt worden, jede Strecke, jede Bewegung, jedoch ohne Waffen, zwangsläufig, inmitten der anonymen, niedergeschlagenen Menschenmenge der Sonntagnachmittage –, in dem Augenblick also, in dem die Kampfgruppen losstürmten, gab es nicht für jeden von uns eine individuelle Waffe, Bazooka, Gewehr oder Maschinenpistole. Wenn ich mich recht erinnere, gab es wohl pro Zehnergruppe höchstens zwei Waffen.
    Die acht anderen, unbewaffneten, stürmten mit der gleichen Energie los, bereit, die Waffen der Toten und Verletzten aufzusammeln, bereit, sich in den Depots der SS -Kasernen zu bewaffnen, die wir verlassen anzutreffen hofften.
    Und das war tatsächlich der Fall. Dort fanden wir genügend Waffen, um uns vollständig auszurüsten, bevor wir nach Weimar marschierten auf der in den Buchenwald geschlagenen Straße, wo wir, ohne es zu wissen, dem Jeep von Egon Fleck und Edward A. Tenenbaum begegneten.
    Doch das hat nicht lange dauern können: diese Begegnung ist notgedrungen flüchtig gewesen.
    Für sie dauerte es den kurzen Moment, in dem sie einen überraschten, aber aufmerksamen, zweifellos ergriffenen Blick auf diese Hunderte von zerlumpten, ausgehungerten, plötzlich aufgetauchten bewaffneten Kerle warfen, die in geschlossenen Reihen, von Führern begleitet, nach
Osten marschierten – in Wirklichkeit zur Stadt Weimar –, und gleich darauf hatten Fleck und Tenenbaum sich wohl entfernt, und ihr Jeep war zum Eingang von Buchenwald weitergefahren.
    Haben sie laut kommentiert, was sie gerade gesehen hatten? Haben sie sich nach der genauen Art, der wahren Herkunft dieser bewaffneten Einheiten gefragt?
    Das ist sehr gut möglich, sogar nahezu sicher.
    Ich weiß nichts, so gut wie nichts über diese beiden Amerikaner. Unter anderen Umständen, in einem anderen Alter meines Lebens wäre es nicht undenkbar gewesen, eine gründlichere Erkundung der Akten vorzunehmen, eine Arbeit der Suche nach eventuellen überlebenden Zeugen, um das frühere Leben des Zivilisten Fleck und des Oberleutnants Tenenbaum in Erfahrung zu bringen. Ihr Leben bis zu diesem 11. April 1945: ihre Kindheit, ihre Studien, ihre Jugendlieben, ihr Verhältnis zu ihrem eigenen Judentum und so weiter.
    Aber diese Recherche kann ich nicht leisten, ich entschuldige mich dafür. Ich muss mich mit den mageren Informationen begnügen, die ich besitze, mit den wenigen mir zugänglichen Dokumenten, besonders ihrem Preliminary Report vom 24. April 1945.
    Darin werde ich nichts über Fleck erfahren. Nur dass er Zivilist ist, sonst nichts. Aber warum ist er da? Welche Rolle spielt er? Hat er eine besondere

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