Überlebensübungen - Erzählung
hatte und der in meinem Bericht bald auftauchen wird.
Wie dem auch sei, ich war tatsächlich da, auf der Hauptstraße nach Weimar, unter den Häftlingen in Waffen und in Lumpen. Fleck und Tenenbaum haben, beeindruckt, die Szene in ihrem Vorläufigen Bericht vom 24. April 1945 beschrieben. Ich habe ihn oben auf die Schnelle übersetzt, ebenso gut kann ich die Originalversion anführen.
»We turned a corner onto a main highway and saw thousands of ragged, hungry-looking men, marching in orderly formations, marching East. These men were armed and had leaders at their sides. Some platoons carried German rifles. Some platoons had panzerfausts on their shoulders. Some ›potato masher‹ Hand grenades. They laughed and waved wildly as they walked … These were the inmates of Buchenwald, walking out to war as tanks swept by at 25 miles an hour …«
Gewiss, wir waren nicht Tausende. Wir waren ein paar Hundert bewaffnete Häftlinge. Fleck und Tenenbaum glauben Tausende, »thousands«, gesehen zu haben, aber das ist sicherlich der Überraschung, der Aufregung geschuldet.
Einer im Übrigen geteilten Aufregung, zwangsläufig.
Sie haben es notiert, unsere beiden Helden eines möglichen Romans. »Sie lachten und machten im Gehen wilde Bewegungen«, sagen sie über uns. Und das ist bestimmt wahr. Versetzen Sie sich in unsere Lage: wir verließen die Hölle der letzten Tage von Buchenwald; die Razzien der entfesselten und zugleich verängstigten SS -Leute, die
auf das Lager losgelassen wurden, um zu versuchen, uns auf dem Appellplatz zu versammeln, mit Kolbenhieben und Schlagstöcken und manchmal mit Schüssen, im Hinblick auf eine Evakuierung, der die illegale Selbstverteidigungsorganisation einen passiven, aber entschlossenen Widerstand entgegensetzte.
Nur die Verantwortlichen der polnischen Gemeinschaft, die mit dieser Direktive nicht einverstanden waren, hatten ihren Landsleuten den Befehl gegeben, die Evakuierung zu akzeptieren, denn sie meinten, dass die SS -Garnison das Lager zerstören und die Überlebenden am Ende vernichten würden. Eine Meinung, die sich durch die Ankunft mehrerer Flammenwerfer-Kompanien der SS in den letzten Tagen zu bestätigen schien.
Außerdem waren die Militärführer der polnischen Organisation der Meinung, dass die Überlebenschancen bei einer Massenflucht auf den Landstraßen des Exodus bei der Evakuierung deutlich höher wären. Sie hatten sich für dieses Risiko entschieden, statt innerhalb des Lagers auf einen, wie sie glaubten, von vornherein verlorenen Kampf zu warten.
So hatten sich, drei oder vier Tage vor der Ankunft von Fleck und Tenenbaum als Vorposten der Stoßtruppen von Patton, die Polen zur vorgesehenen Stunde auf dem Appellplatz versammelt.
Die Offiziere der SS -Garnison, die den Evakuierungsplan leiteten, mochten von zwei bezeichnenden Details beeindruckt sein.
Erstens waren die versammelten Polen jung, rüstig, scheinbar bei guter Gesundheit. Die Chefs der polnischen
Gemeinschaft hatten die Alten, Kranken, Ruinierten zurückgelassen. Zweitens hatten die auf dem Appellplatz massierten Polen nichts bei sich, trotz der Genehmigung der Nazis, ein wenig Gepäck mitzunehmen. Vielleicht einen Kanten Brot in ihren Taschen, mehr nicht.
Schulter an Schulter, den Blick ins grünende Laub des Waldes ringsum gerichtet, waren sie leicht, frei in ihren Bewegungen, fast fröhlich. Zu allem bereit, zum Kampf, zur Flucht, zum verzweifelten Lauf, die Muskeln gespannt zum Losstürmen, zum Sprung nach vorn, in den nahen Wald, seinen schützenden Schatten: in die Freiheit.
Aber wir, Franzosen, Russen, Deutsche, Spanier, alle Überlebenden Europas – außer den Polen, ich sagte soeben, warum –, alle, die den Direktiven des illegalen Militärkomitees gefolgt waren, in Lumpen, in Waffen, »hungry-looking«, wie Fleck und Tenenbaum schrieben, ausgehungert, wir marschierten in geschlossenen Reihen gen Weimar, die Stadt, deren Namen für manche von uns so viele Dinge wachrief.
Jedenfalls erzählen die beiden Amerikaner, die diesen Bericht verfasst haben, auch wenn sie sich über die Zahl der bewaffneten Häftlinge täuschten, da sie Tausende zu sehen meinten, während wir nur ein paar Hundert waren – schon ungewöhnlich genug, kein Grund zu übertreiben! –, jedenfalls erzählen sie die Wahrheit: sie haben wirklich das Wesentliche gesehen.
Mit fachmännischem Blick haben sie die Bewaffnung dieser merkwürdig zerlumpten, überraschend mageren Einheiten erkannt. Sie
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